Geschrieben am 4. Oktober 2004 von für Bücher, Litmag

Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit

Hommage an Brooklyn

Brooklyn ist nicht erst seit Selbys „Last Exit to Brooklyn“ eine literarische Legende – umwabert von unzähligen Ghetto-, Gangsta- oder (Off-) Kunst-Legenden ist er einer der bis heute quirligsten und authentischsten New Yorker Stadtteile geblieben. Mit Die Festung der Einsamkeit“ legt Jonathan Lethem nun eine fast siebhundertseitige, facettenreiche Hommage an diesen 2 1/2-Millionen-Moloch vor.

Neben dem eigentlichen Protagonisten Brooklyn spielt Dylan Ebdus eine zentrale Hauptrolle in diesem Roman. Fünf Jahre alt ist er, als er in den späten Sechzigern mit seiner kettenrauchenden Hippie-Mutter und seinem verschrobenen Künstlervater in die Brooklyner Dean Street zieht. Er ist der einzige „Whiteboy“ in den von Schwarzen und Puertoricanern bevölkerten „Boerum Hill“, einer Welt aus Hinterhöfen, Treppenaufgängen, abgesteckten Revieren und dem Schiefer der Bürgersteige, der ihr aller Wohnzimmer ist. Es ist die Zeit von Hula-Hoop und der Ballspiele „Spaldeen“ und „Skully“, mit denen sich die Nachmittage in die Endlosigkeit ausdehnen: „Schau nur lange genug in die Dean Street und die Dean Street wird in dich hineinschauen.“

Fluchten aus der rauen Welt der Straße, auf der Whiteboy Dylan regelmäßig schikaniert und ausgenommen wird, sind das Atelier des Vaters, wo er im Geruch der Farben und der opulenten Bildbände von Breughel oder de Chirico versinkt. Später, als die Mutter wortlos verschwindet und nur mit „Rennende Krabbe“ unterschriebene Postkarten vage an sie erinnern, kommt die bunte Welt der Comics und ihrer Sprechblasen-Helden wie „Die Fantastischen Vier“, Batman oder Superman hinzu. Durch einen geheimnisvollen Ring, den Dylan eines Tages von einem Obdachlosen erhält, beult sich diese Comicwelt unerwartet immer wieder in die Realität aus und verleiht ihr eine fantastisch-surrealistische Note.

No sleep ´til Brooklyn

Mit ungeheurem Detailreichtum und atmosphärisch dicht zeichnet Lethem den hochenergetischen Kosmos Brooklyn mit all seiner Gewalt, seinem Schmerz, seiner Lebensfreude und seinem unbedingten Lebenswillen nach. Deutlich klingt hier auch Lethems Leidenschaft und Verbundenheit mit diesem Stadtviertel durch, in dem er selber aufgewachsen ist und auch noch heute lebt. Sieben Jahre hat der 40-Jährige, der schon zu den wichtigsten Autoren Amerikas zählt, an seinem nunmehr fünften Roman gearbeitet, den er selber als sein „Schlüsselwerk“ bezeichnet. Ohne Wenn und Aber steht er dabei zu der tiefen autobiographischen Grundierung seines neuen Romans.

Doch trotz aller scheinbaren Nähe hält Lethem zu seinen Figuren eine kühl-lakonische Distanz, liefert keine psychologischen Erklärungen und bietet dem Leser wenig Identifikationsflächen. Sein Roman schwankt zwischen einer episch-sinnlichen und einer postmodern-avancierten Erzählweise, die diskontinuierlich, fragmentarisch und reflexiv ist. Neben der Brooklyn-Story bietet Lethem dabei auch eine kleine Kulturgeschichte des Pops und des Undergrounds, was ihn neben der ambivalenten Erzählweise eng mit Colson Whiteheads jüngst erschienenem Roman „John Henry Days“ verbindet.

Als Lethems Anti-Held Dylan langsam aus den Kinderschuhen herauswächst, lernt er in der Nachbarschaft den Sohn eines einstmals berühmten und jetzt kokain-abhängigen Soul-Sängers kennen: „Mingus Rude stellte eine eigene Welt dar, eine explodierende Bombe von Möglichkeiten.“ Mit Mingus bricht für Dylan ein neues Zeitalter an, das Zeitalter von Graffiti und „Tags“, von Punk und New Wave, von Hasch und LSD, von Sex und Liebe. Schnell verinnerlicht Dylan das Motto Brooklyns: „Tu so, als wäre es nicht dein erstes Mal.“

Auf der Suche nach dem magischen Moment

Nach einem Schnitt von 18 Jahren wechselt Lethem aus der Er- in die Ich-Perspektive von Dylan, der jetzt am Ende des Jahrtausends steht und als freier Musikkritiker lebt. Achronisch rekapituliert Dylan seine Highschool-Zeit in Camden, wo er sich seine Sporen als „lebendes Ghetto-Gesamtkunstwerk“ verdiente und in Berkeley, wo er als DJ am Campusradio seine Leidenschaft für die Musik entdeckt und zum Job macht. Während viele seiner Freunde aus der Dean Street wie Mingus im Knast oder in der Gosse gelandet sind, ist Dylan weiter auf der Suche nach den magischen Momenten, in denen alles fließt – ein ebenso kostbarer wie flüchtiger Zwischenraum, der sich „öffnete und schloss mit einem einzigen Blick, wenn man blinzelte verpasste man ihn.“

Karsten Herrmann

Jonathan Lethem: Die Festung der Einsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Michael Zöllner. Tropen-Verlag 2004. Gebunden. 665 Seiten. 24,90 Euro.