Geschrieben am 28. Januar 2015 von für Bücher, Litmag

Joshua Ferris: Mein fremdes Leben

Ferris_lebenZähne und Zweifel

– Es ist ein Buch über einen Zahnarzt. Die wenigsten werden jetzt „Endlich!“ rufen. Aber es ist – erst mal ein Buch über einen Zahnarzt. Paul O’Rourke hat eine Zahnarztpraxis in bester Lage, nämlich auf der Park Avenue in Manhattan. Fünf Behandlungsstühle, drei Mitarbeiterinnen. Der Laden läuft sehr gut. Pauls Leben außerhalb der Praxis allerdings nicht so sehr. Die Besessenheit, mit der er anderer Leute Zähne und Zahnfleisch in Schuss hält, manchmal auch gegen ihren erklärten Willen, ist zum Teil echte professionelle Hingabe, zum Teil aber auch eine Form des Weglaufens. Paul weiß nämlich nicht besonders viel mit den Möglichkeiten, die sich ihm in New York bieten, anzufangen. Er könnte rund um die Uhr in die tollsten Restaurants zum Essen gehen, nach der Arbeit verschiedenste Bars ausprobieren, eine breite Palette an Ausgehmöglichkeiten und Freizeitaktivitäten bietet die Stadt außerdem.

Nichts davon lockt ihn, im Gegenteil überfordert ihn diese Fülle, und sein einzig fester Termin sind die Spiele der Red Sox. Die nimmt er regelmäßig auf, auch wenn er sie sich im Fernsehen live anschauen kann, und archiviert sie. Übrigens quält es ihn, dass sie vor einigen Jahren die World Series gewonnen haben, das hat ihm so einiges verleidet. Worauf soll er sich jetzt noch freuen? Trotzdem schaut er weiterhin eisern jedes Spiel.

Ebenso paradox ist sein Verhältnis zum Internet. Er lehnt es ab, eigentlich. Er verweigert sich Facebook und diesen anderen blödsinnigen Sachen, hat nicht einmal eine Praxishomepage, und trotzdem hängt er den ganzen Tag im Netz und ist nur schwer von seinem iPhone zu trennen. Außerdem raucht er, obwohl er so ein hingebungsvoller Zahnarzt ist. Das größte Paradox in seinem Leben ist sein Verhältnis zu jeder Form von Religion. Als erklärter Atheist hat er trotzdem immer wieder Freundinnen, die aus sehr religiösen Familien kommen. Zuletzt seine Praxishelferin, eine Jüdin, weshalb er sich monatelang mit wenig anderem als dem jüdischen Glauben beschäftigte, nur um ihre Familie bei jeder Gelegenheit (meint: Familienfeier) zu brüskieren (er selbst sieht es natürlich anders).

Benutzen Sie Zahnseide …

Eines Tages zeigen sich seine Mitarbeiterinnen höchst erfreut über die schöne neue Homepage. Das Problem ist nur: Paul hat sie gar nicht erstellt oder in Auftrag gegeben. Die Seite sieht auf den ersten Blick ganz brauchbar aus, lediglich unter seinem Namen finden sich merkwürdige Texte, die religiös wirken, aber weder aus der Bibel noch der Tora stammen. Als ein Twitteraccount unter seinem Namen hinzukommt, der ebenfalls seltsame Dinge postet, wird Paul nervös und versucht herauszufinden, wer sich da einen Scherz erlaubt.

Aus dem Scherz wird allerdings mehr, eine alles verändernde Offenbarung steckt dahinter. Jemand behauptet, Paul gehöre einer Religion an, die noch älter als das Judentum sei. Ein Gentest würde dies beweisen. Der Grundgedanke dieser Religion sei im Übrigen: immer an der Existenz Gottes zu zweifeln.

Die daraus entstehenden Verwicklungen – schließlich wird weiterhin öffentlich unter seinem Namen das Internet fröhlich vollgeschrieben – bringen sein Leben gehörig durcheinander und lassen ihn irgendwie auch an seinen Zweifeln zweifeln. Nicht aber daran, dass das tägliche Benutzen von Zahnseide zu den wichtigsten Dingen im Leben gehört. An irgendetwas muss sich der Mensch schließlich festhalten, wenn alles andere auseinanderbricht.

… jeden Tag!

Paul O’Rourke ist eine wunderbar verstörende Figur, deren Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit Ferris durch einige Nebenfiguren spiegelt, vertieft, vielleicht manifestiert. Auch die von ihm erfundene Religion ist ein Spiegel, ein Zerrspiegel in dem Fall. Ferris‘ Ich-Erzähler berichtet mit großer Komik von seiner Lebenstragik, unterbricht den Gang der Geschichte immer wieder mit verplauderten Anekdoten, mäandert durch seine Vergangenheit, versucht, der schmerzhaften Wunde, dem Selbstmord seines Vaters, immer wieder auszuweichen, riskiert am Ende den Blick in den Spiegel, wobei offen bleibt, wie gut ihm das wirklich tut.

Kurz zu dem Titel des Romans: Der Originaltitel “To Rise Again at a Decent Hour” bezieht sich direkt auf O’Rourkes Schlafprobleme. Der deutsche Titel “Mein fremdes Leben”, zusammen mit der Drohne auf dem Cover, lässt zunächst irrigerweise an einen Cyberstalking-Roman denken, zielt aber möglicherweise auf Pauls Entfremdung von sich selbst ab, was wiederum gespiegelt wird in den merkwürdigen Texten, die unter seinem Namen und auf den ersten Blick ohne Bezug zu ihm veröffentlicht werden.

Ein in Teilen anstrengendes, zum größten Teil aber herrliches Buch. Über einen Zahnarzt, und über Zweifel. Im Zweifel für den Zweifel, scheint es zu sagen, und irgendwie auch: Benutzen Sie Zahnseide, jeden Tag, das rettet Leben.

Zoë Beck

Joshua Ferris: Mein fremdes Leben (To Rise Again at a Decent Hour, 2014). Deutsch von Marcus Ingendaay. Luchterhand Verlag, 2014. 384 Seiten. 19,99 Euro.

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