Scharfsinniger Reporter wird kafkaesker Nabelschauer
Peter Münder über Jürgen Leinemanns schonungslosen Bericht seiner Krebserkrankung.
Beim Buchhändler gibt es zwar noch keine separate Abteilung für das offenbar schwer angesagte neue Genre Krankengeschichten/Krebsleiden, doch das dürfte sich bald ändern. Christoph Schlingensief veröffentlichte ein Buch über seinen Lungenkrebs, Gregor Diez (SZ) schrieb über das Sterben seiner Mutter, Tilmann Jens rechnete mit der Demenz seines berühmten Vaters ab, worauf viele Leser mit Betroffenheit, Mitleid und Sympathie reagierten. Inzwischen gibt es aber auch kritische Stimmen, die sich über das neue Moribunden-Genre ärgern und fragen: Was soll das exhibitionistische Zurschaustellen eigener Leiden? Ist diese Onkologen- Lektüre vielleicht als Härtetest für die Leidensfähigkeit der Leser gedacht?
Auch Jürgen Leinemanns schonungsloser Bericht über seinen vor zwei Jahren diagnostizierten Zungengrundkrebs enthält viele Passagen, die sich eher wehleidig mit der brutalen Leidensgeschichte nach der Tumor-Diagnose befassen. Aber der ehemalige Spiegel-Reporter, 72, Autor mehrerer spannender Biografien (über Helmut Kohl, Sepp Herberger, Gerhard Schröder) und Studien (Höhenrausch als Anamnese größenwahnsinniger Politiker und Mediengrößen ist immer noch das unübertroffene Standardwerk!) geht eben über den Mikrokosmos des vorübergehend sprachlosen Reporters hinaus. Er beschreibt zwar seine Hilflosigkeit und Wut, weil er nun auf einen Rollator, auf Schläuche zur künstlichen Ernährung und auf eine Sprachkanüle angewiesen ist. Aber er kann zugleich über seinen hilflosen Zustand kritisch reflektieren und von dieser hoch emotionalen Betroffenheitsschiene auf ein neues Gleis hinüberrollen, von dem aus eine Analyse mit einer umfassenderen, gesellschaftskritischen Perspektive möglich ist. Es geht bei diesem extrem leistungsorientierten Journalisten auch um Versagensängste, Anerkennungsmechanismen und um die Bewältigung des Alkoholismus, unter dem er früher lange gelitten hatte. Bezeichnend ist die Liste all der Prominenten (Merkel, Schröder, Bahr, Müntefering, Dietl, Staeck, Steinmeier, Blüm, Weizsäcker, Genscher usw.), die ihn bei einer Feier in Berlin in den Ruhestand verabschiedeten. Diese Bestätigung ist Balsam für seine Psychowunden. Wie ihn die Außenwelt wahrnimmt, das hat für sein fragiles Ego einen enormen Stellenwert.
Kafkaeske Nabelschau
Als erfahrenes AA-Mitglied war Leinemann vertraut mit Sensibilisierungsprozessen und mit dem Kommunizieren über eigene Defizite. Das half ihm nach der Krebsdiagnose, sich mit anderen über seine Probleme auszutauschen und einen Zustand der totalen depressiven Isolation zu vermeiden. Doch dieses hyperkritische Hineinhören in die eigene Psychomaschinerie führt auch zu schneller Verunsicherung und zu Selbstzweifeln. Eine irritierende Schlüsselszene aus den 70er-Jahren, als der Spiegel-Korrespondent in Washington eine Vietnam-Demonstration besuchte, kommt ihm wieder in den Sinn. Damals saß er mit anderen deutschen Kollegen auf dem Rasen hinter dem Weißen Haus und unterhielt sich mit einem jungen Schwarzen, der sich für die politische Einstellung der Deutschen interessierte. Alle anderen hatte der Amerikaner für gut befunden, doch als er Leinemanns Antworten gehört hatte, sprang er entsetzt auf und rief: „Oh no, dieser Typ ist ja tausend Jahre alt“ und lief davon. Die Kollegen hielten das für einen schlechten Scherz, doch bei Jürgen Leinemann hatte der Junge einen wunden Punkt getroffen und eine introvertierte, kafkaeske Nabelschau ausgelöst. Schon in seiner Schulzeit sei der Werther seine Lieblingslektüre gewesen, reflektiert der Reporter nun, seit seiner Pubertät spürte er eine dunkle, schwermütige Seite, fühlte er sich tatsächlich uralt und traurig.
Und nun, einige Jahrzehnte später, überlegt Leinemann, ob ihn sein Körper vielleicht im Stich gelassen habe, weil er ihm wichtige Warnsignale vorenthielt und ihn nicht auf den entstehenden Tumor aufmerksam gemacht hatte. Kein Zweifel: Mehrere Seelen wohnen ach, in seiner Brust: Die des Reporters, aber auch die des Analytikers und des sensiblen Künstlers. Und deshalb ist die Lektüre nur streckenweise ein larmoyanter Krankenbericht. Wenn Leinemann etwa während seiner Reporterzeit in den krisengeschüttelten USA seine Eindrücke von Besuchen an der deutschen Biedermeier-Front und den Begegnungen mit nörgelnden, permanent unzufriedenen Landsleuten beschreibt, dann liefert er mit diesem durch längere Distanz geschärften Blick auch gleich das Psychogramm einer griesgrämigen, mit sich selbst unzufriedenen Nation. Und diese kritische Distanz macht wohl auch die Faszination des Buches aus. Denn das hier implizierte „carpe diem“ wird nicht als Butzenscheiben-Kalenderspruch missbraucht. Es soll sicher auch nicht als plumpe Quintessenz dem Leser ins Nachttischchen gelegt werden. Aber als ideale Prophylaxe gegen die Befürchtung, vielleicht nicht richtig gelebt zu haben, ist Das Leben ist der Ernstfall auf jeden Fall sehr zu empfehlen.
Peter Münder
Jürgen Leinemann: Das Leben ist der Ernstfall.
Hoffmann & Campe 2009. 240 Seiten. 20,00 Euro.