Geschrieben am 21. August 2006 von für Bücher, Litmag

Juri Andruchowytsch: Moscoviada

Höllentrip zur Freiheit

Juri Andruchowytschs Roman „Moscoviada“ ist ein vielstimmiger Abgesang auf den einstigen Vielvölkerstaat Sowjetunion und zugleich eine Ode an die nationale Wiedergeburt der Ukraine. Mit wilden Amouren, Prügeleien und Besäufnissen bekämpft Andruchowytschs literarisches Alter ego den patriotischen Wehmut und kehrt zerschunden in die Heimat zurück.

Nationalismus drückt sich oft in aggressiver Abgrenzung vom Nachbarn aus. Patriotismus wird erst daraus, wenn das eigene Land um seiner selbst willen geliebt wird. In Andruchowytschs ukrainischem Antihelden schlägt das nationalistische Herz mindestens genauso stark wie das patriotische. Er schimpft auf die „Kloake Moskau“ und all jene Russen, die das Ausscheren der ehemaligen Sowjetrepubliken mit allen Mitteln aufhalten wollen. Während er gleichzeitig die Verse ukrainischer Dichter rezitiert und einen imaginären ukrainischen Potentaten herbeifabuliert. Trotzdem weilt der Literaturstudent Otto von F. in Moskau, um seine Studien voranzutreiben. Mit wenig Eifer und wenig Erfolg. Stattdessen bestimmen Alkohol und Frauen seine tristen Tage in der russischen Metropole. Bis sich innerhalb von 24 chaotischen Stunden die Ereignisse überschlagen und er einen Höllentrip zur Freiheit antritt.

Zunächst hellt sich sein grauer Alltag jedoch auf. Der unverhoffte Sex mit einer unbekannten Schönen in den Katakomben des verfallenen Studentenwohnheims lässt ihn für kurze Zeit aufatmen. Doch bereits der anschließende Besuch einer Bierbar mit seinen Kommilitonen aus allen Winkeln des einstigen Sowjetreichs wirkt ernüchternd auf die patriotische Seele, nicht aber auf seine dichterische. Von nun an irrt er immer zielloser und enttäuschter durch die Großstadt.

Statt seinen Freund Kyrylo zu besuchen, mit dem er eine „progressive ukrainische Zeitschrift“ herausgeben will, zieht es ihn zu seiner ehemaligen russischen Geliebten Galja. Prügelt sich mit ihr, um sie bald darauf wieder zu verlassen und in die Eingeweide Moskaus einzudringen – der Kanalisation der 8-Millionen-Stadt. Dabei geht er nicht nur seiner Brieftasche und damit seinem Flugticket in die Heimat, sondern auch seiner Freiheit verlustig. Die immer noch allwissende Staatsmacht greift ihn in einem geheimen Regierungstunnel auf und droht mit brutaler Folter durch sagenhaft riesige und überdies ausgehungerte Kanalratten. Damit hat aber das Leiden noch kein Ende. Das mit spektakulären Szenen nicht geizende Opus fährt schlussendlich noch einmal die altrussische und sowjetische High Society auf, bevor der Titelheld seinen Abschied nimmt.

Mehr als ein politisches Pamphlet

Moscoviada ist ein apokalyptisches Werk, das mit Kritik an der verhassten Sowjetunion nicht spart und das Machtkalkül der postsowjetischen Nachlassverwalter gründlich durchleuchtet. „Das Imperium häutete sich wie eine Schlange, überdachte die gewohnten totalitären Vorstellungen, diskutierte, mimte Gesetzesänderungen und eine neue Lebensweise, improvisierte über das Thema Wertehierarchie. In der Annahme, auf diese Weise sein erneuertes Ich bewahren zu können. Aber es war ein Fehler, die Haut wechseln zu wollen. Die weggeworfene war, wie sich zeigte, die einzige gewesen“, schreibt Andruchowytsch in seinem bereits 1993 in Kiew erschienenen Roman. Seine bildhafte Analyse ist bis heute gültig und trifft auch noch auf Putins Reich zu.

Bei aller deklamatorischen Kritik am Weltmachtsfieber der Russen ist „Moscoviada“ kein bloßes politisches Pamphlet. Es ist ein poetisch-sarkastisches Plädoyer für die Freiheit und zugleich die tragisch-groteske Lebensgeschichte eines Menschen, der diese Freiheit verzweifelt sucht. Andruchowytsch selbst meinte sie während des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperiums Anfang der 90er-Jahre in Moskau zu finden und studierte zwei Jahre am dortigen Gorki-Literaturinstitut. 1991 kehrte er enttäuscht in seine Heimat zurück. Die Ukraine ist zwar staatsrechtlich unabhängig geworden, bekommt aber immer wieder den politischen und wirtschaftlichen Druck aus Moskau zu spüren. Moscoviada bildet diesen traumatischen Ablösungsprozess von der sowjetischen Allmacht eindrucksvoll und erschütternd ab.

Jörg von Bilavsky

Juri Andruchowytsch: Moscoviada. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006. 224 Seiten. 22,80 Euro. ISBN: 3-518-41826-2