Geschliffener Erzählstil
Ein sehr ambivalentes Lese-Erlebnis, bei dem man den lebendig gezeichneten Figuren zwar rasch nahe kommt, aber auch schon bald wieder enttäuscht wird – nicht zuletzt, weil zu wenig, eigentlich gar nichts, passiert. Und ohne Handlung bleibt nur das: Zwei leuchtende Charaktere in einem mittelmäßigen Roman.
Kevin Cantys erster Erzählband hieß „A Stranger In This World“ und erschien in Deutschland als „Mondschein und Aspirin“. Cantys erster Roman heißt nach einem Tom Petty Song „Into The Great Wide Open“ und behält glücklicherweise diesen Titel. Wahrscheinlich hätte der Verlag ihn sonst „Und es war Sommer“ genannt, denn es ist die Geschichte einer ersten Liebe.
Kenny Kolodny ist 17 Jahre alt, intelligent, gebildet, gefühlvoll und somit eigentlich ein ziemlich liebenswerter Kerl – wenn er nicht zugleich auch sehr verschlossen, gleichgültig und voller Selbstmitleid wäre (weil er arm ist, einen jähzornigen Alkoholiker zum Vater hat und – am allerschlimmsten – einen Renault fährt). Kevin Canty porträtiert hier einen zerrissenen Jugendlichen, der kein Kind mehr ist und sich noch ganz und gar nicht mit der Heuchelei der Erwachsenenwelt arrangieren kann und will: „Es war interessant, wieviel des Erwachsenenlebens aus Verleugnen bestand. Im Country Club zum Beispiel, wo er im Sommer gearbeitet hatte, machten alle ihre Arbeit schlampig…. Niemand wurde zusammengestaucht oder gar entlassen. Niemand wollte die Wahrheit aussprechen. Alles war in schönster Ordnung“.
Kenny verliebt sich in Junie, Tochter reicher Eltern, Honda-Fahrerin, künstlerisch begabt, aber selbstmordgefährdet:
„Er lernte sie in einem Kleinbus kennen, im Regen, auf dem Weg ins Pfadfinderlager bei Chincoteague. Es war ein Nachmittag Mitte Oktober. Graues, regnerisches Licht sickerte durch die Fenster. Kenny saß in der letzten Sitzreihe des Busses, ohne einen Gedanken, ohne einen Plan. An den Scheiben schlängelte sich das Regenwasser hinunter: kleine Triebe oder Finger, die von links oben nach rechts unten rannten, zitternd innehielten, dann weiter eilten, von Tropfen zu Tropfen, von einem sicheren Hafen zum nächsten, bis sie zu schwer waren, um anhalten zu können, und über den Rand der Scheibe rutschten und auf die Straße fielen. Kenny gab ihnen Namen, als wären sie Rennpferde. Er spürte eine angenehme Traurigkeit, wenn sie auf dem Asphalt starben“.
Kennys und Junies Liebe beginnt furios, katapultiert beide in neue Welten, läßt sie Freiheit spüren und Geborgenheit. Doch schon bald versagen alle Zauberworte und Canty beschreibt quälend genau, wie beide im Strudel des Heranwachsens, der Unentschiedenheiten und Fehleinschätzungen sprachlos miterleben müssen, wie sie immer weiter auseinander driften. Beide kämpfen mit- und gegeneinander um ihre Identität und „Kenny sieht es mit Schrecken: Sie lieben einander wirklich und doch werden sie es schaffen, diese Liebe kaputt zu machen“. Als Junie ein Praktikum am anderen Ende des Landes annimmt, ist ihre gemeinsame Zukunft besiegelt: „Du fehlst mir zwar die ganze Zeit“, sagt sie „aber das meine ich nicht. Ich bin dabei mein eigenes Leben zu entdecken, Kenny. Ich habe das Gefühl, dass es mir gehört“.
Doch wichtiger als die Emotionen der beiden Teenager sind dem Autor Charakter und Atmosphäre. Mit ein paar minimalistischen Pinselstrichen zeichnet er eine intensive Realität:
„KENNYS VATER GING ES NICHT GUT. KENNY HATTE IHN ZULETZT AUF DEM SOFA IM WOHNZIMMER GESEHEN, SCHLAFEND, UM DREI UHR NACHMITTAGS. ER HATTE DEN FERNSEHER AUSGESCHALTET, SEINEN VATER MIT EINER TAGESDECKE AUS CHENILLE ZUGEDECKT UND SICHERHEITSHALBER DEN ABGESTANDENEN COCKTAIL VOM COUCHTISCH GERÄUMT“.
Kevin Canty beeindruckt den Leser in „Into The Great Wide Open“ mit einem geschliffenen Erzählstil, der kurze, einfache Sätze bevorzugt und in seiner Symbolik unaufdringlich ist. Eine Fülle von Satz-Fragmenten und der sparsame Gebrauch von Sätzen ganz ohne Subjekt ergeben dabei eine coole, starke Poetik. Und trotzdem wünschte man Kenny an manchen Stellen eine rauhere und explosivere Sprache. So aber wird das Lesen dieses Buches zu einem sehr ambivalenten Erlebnis, bei dem man den lebendig gezeichneten Figuren zwar rasch nahe kommt, aber auch schon bald wieder enttäuscht wird – nicht zuletzt, weil zu wenig, eigentlich gar nichts, passiert. Und ohne Handlung bleibt nur das: Zwei leuchtende Charaktere in einem mittelmäßigen Roman. Übrigens: Weniger unbefriedigend und handlungsarm ist oben erwähnter Erzählband „A Stranger In This World“.
Jan Karsten
Kevin Canty: Into The Great Wide Open. Taschenbuch – 318 Seiten – Rowohlt TB-V., Rnb. Erscheinungsdatum: 2001 ISBN: 3499230240