Geschrieben am 2. Mai 2012 von für Bücher, Litmag

LitMag-Quickies: Alice Munro, Martin Widmann, Miranda July, Godehard Schramm

Kurzrezensionen – diesmal mit einer Haiku-Rezension zu Jon Ronson (Friederike Moldenhauer) und Texten zu Alice Munro („Was ich dir schon immer sagen wollte“), Andreas Martin Widmann („Die Glücksparade“), Miranda July („Es findet dich“) und Godehard Schramm („Lago di Como – Land und Leute, Kultur und Konrad Adenauer“), geschrieben von Christina Mohr (MO), Karsten Herrmann (KH), Brigitte Helbling (BH) und Carl Wilhelm Macke (CWM).

(FM) Haiku-Rezension

Psychopathenjagd
spannend geschrieben aber
die Fehler stören

Jon Ronson: Die Psychopathen sind unter uns (The Psychopath Test – A Journey Through the Madness Industry, 2011). Aus dem Englischen von Martin Jaeggi. Tropen Verlag 2012. 269 Seiten. 19,95 Euro.

Geschichten jenseits des Gesagten

(MO) – Der Begriff „Frauenliteratur“ hat zu Recht einen unangenehmen Beigeschmack – nicht zuletzt, weil sich die Frage stellt, ob es überhaupt eine Literatur geben kann, die sich ausschließlich an ein Geschlecht wendet. Doch das ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht diskutiert werden soll, obwohl die 1931 in Ontario geborene Autorin Alice Munro häufig als „Frauenschriftstellerin“ bezeichnet wird.

Das ist sie auch, jedoch nicht im klischeebehafteten Sinn: niemand versteht es besser als Munro, Frauenfiguren zu skizzieren, denen auf den ersten Blick nichts Spektakuläres anhaftet. Fast alle ProtagonistInnen sind weiblich, man erlebt Munros Erzählungen durch die Augen und Gedanken von Schwestern, Töchtern, Müttern, Freundinnen, Großmüttern und Tanten.

Alice Munro breitet Lebens- und Familiengeschichten aus, ohne einen Skandal oder eine Vulgarität in den Mittelpunkt zu stellen: Häufig sind es die gerade nicht explizit beschriebenen Begebenheiten, die ein großes Glück oder Unglück, einen Wende- oder Endpunkt auslösen. Alice Munros Stil ist unprätentiös, klar und elegant, die Lektüre ein Genuss, der eigene Interpretationen verlangt – als betrachte man ein Gemälde von Edward Hopper, dessen eigentliche Geschichte sich nicht im Abgebildeten abspielt.

Dem Dörlemann Verlag gebührt großer Dank dafür, dass dort nach „Der Tanz der seligen Geister“ mit „Was ich dir schon immer sagen wollte“ eine weitere Sammlung mit Munros Kurzgeschichten veröffentlicht wird. Die dreizehn Erzählungen stammen aus den frühen 1970er Jahren und erscheinen nun in der Übersetzung von Heidi Zerning zum ersten Mal auf Deutsch. Obwohl man zweifelsohne das gesamte Buch durchlesen wird, seien die Erzählungen „Vergebung in Familien“ und „Sag mir, ja oder nein“ besonders empfohlen. Und zwar Lesern und Leserinnen.

Alice Munro: Was ich dir schon immer sagen wollte (Something I’ve Been Meaning to Tell You , 1974). Deutsch von Heidi Zerning. Dreizehn Erzählungen. Dörlemann 2012. 377 Seiten. 23,90 Euro.

Dramaturgie der Nulllinie

(KH)Dramatische Verwicklungen, überschwappende Emotionen oder existentielle Situationen darf man in diesem mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichneten Debut von Andreas Martin Widmann nicht erwarten. Der 1979 in Mainz geborene Autor legt mit „Glücksparade“ vielmehr ein extrem leises und ruhiges Buch vor, dessen Spannungsbogen sich nahe der Nulllinie bewegt.

Widmanns Protagonist ist der fünfzehnjährige Simon, der mit seinen Eltern in ein Mobilheim auf einem Campingplatz zieht, da sein Vater dort einen Job als Platzwart bekommen hat. Simons Vater ist ein Mann mit vielen Plänen, Ideen und Geschichten, der bei den Leuten ankommt, aber immer wieder droht zu scheitern: „Ich versuch nur, den verdammten Laden zusammenzuhalten. Aber das haut einfach nicht hin, so einfach ist das.“

Der von Simons Vater betreute Platz ist bevölkert von Dauercampern wie „Bubi“ Schulz, die mehr oder weniger am Rande der Gesellschaft stehen und hier eine skurrile Gemeinschaft bilden. Auch Simon ist ein Junge, der etwas aus der Welt gefallen zu sein scheint und auf merkwürdig unbeteiligte Weise das an ihm vorbeiziehende Leben beobachtet. Nur zu der Heller-Tochter, die eine eigene Show im Fernsehen bekommen soll, fühlt er sich hingezogen – doch dann kommt er einem Geheimnis seines Vaters auf die Spur.

„Die Glücksparade“ ist ein klar und ruhig dahinziehendes Gemälde mit der leichten Patina einer vergangenen Zeit. Andreas Martin Widmann nimmt in diesem Debut die kleinen Dinge des Alltags und das ganz Alltägliche, Nebensächliche in den Blick. Mit feinem Gespür zeigt er, wie die Beziehungsfäden zwischen den Menschen sich knüpfen und alsbald zu verwirren und zu verknoten drohen. Das Buch ist dabei wie der erste Schluck Bier für Simon: „Es schmeckte bitter, aber es war auch etwas Süßes dabei.“

Andreas Martin Widmann: Die Glücksparade. Rowohlt 2012. 220 Seiten. 16,95 Euro. Zu einer Leseprobe (PDF) geht es hier.

Kleinanzeigen-Backstories

(BH) – Bei den meisten anderen Autoren dürfte dieses Buchvorhaben, eigentlich einen Zusammenstellung von Rechercheberichten zu einem Film, als überflüssig erscheinen, bei Miranda July dagegen fügt es sich recht nahtlos in einen künstlerischen Gesamtwackelpudding aus Privat und Öffentlich. 2009 wollte das Schreiben an einem Filmskripts nicht recht vorangehen, und July ertappte sich dabei, wie sie immer mehr Zeit mit dem Lesen eines Kleinanzeigenblatts zubrachte. Aus der Lektüre wurde Neugier, aus der Neugier entstand ein Grund, das Haus zu verlassen.

„Wer ist wohl dieser Typ, der hier seine Lederjacke verkaufen will?“

„Es findet dich“ zeigt July mit Fotografin und Assistenten in den Wohnungen und Häuser von Menschen, die sich noch an Print halten, wenn sie einen alten Föhn verkaufen wollen, und außerdem für 50 Dollar bereit sind, sich einer Filmerin zu öffnen, von der sie schließlich auch nicht wissen können, ob sie nicht in Wahrheit eine Psychopathin ist. Latente Paranoia sitzt bei einigen Gesprächen auf beiden Seiten unübersehbar mit am Tisch, hin und wieder auch ersetzt durch ihre hellere Schwester, die vertrauliche Endlosrede.

Julys Kleinanzeigen-Backstories erschienen im Original bei Dave Eggers McSweeney’s Verlagshaus, dessen Herz seit jeher für prominente Randständige schlägt und gerade dieser Autorin einen guten Hafen bietet. Man kann das Unternehmen „Es findet dich“ auch als Querschnitt durch die amerikanische Kleinbürgerwelt lesen, nur lässt einen July, und dafür ist man ihr dankbar, nie vergessen, dass ihre Recherchen am Ende nur dazu da sind, die Arbeit am Eigentlichen – einem Film über zwei junge Menschen, die eine Katze adoptieren – voranzutreiben. Ob nun die Personen, die sich auf Julys Interviewanfragen einlassen, lächerlich, berührend oder befremdlich sind, am Ende geht es July um July mit einer klaren Selbstbezogenheit, die in diesen Berichten über ihr Eindringen in fremde Lebenswelten durchaus auch als ein Akt der Höflichkeit daherkommt.

Miranda July: Es findet Dich. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Diogenes 2012. 224 Seiten. 22,90 Euro. Die sehr schöne Website von Miranda July finden Sie hier.

Literarisches Porträt des Lago di Como

(CWM) – Es ist so etwas wie eine Ikone der Bundesrepublik Deutschland geworden: das Foto von dem Boccia spielenden Alt-Bundeskanzler Konrad Adenauer. In den Jahren seiner Amtszeit verbrachte Adenauer häufig seinen Urlaub fern von Bonn in Cadenabbia am Comer See. sein Parteifreund und langjähriger Außenminister Heinrich von Brentano hatte ihn an diesen Ort jenseits der Alpen gelockt.

Godehard Schram erinnert in diesem wunderbar gestalteten Buch an die Aufenthalte des berühmten Politikers und zeichnet gleichzeitig ein großes literarisches Porträt der Landschaft rund um den in der norditalienischen Lombardei gelegenen See. Damit kommen sowohl die besonders am Privatmann Konrad Adenauer interessierten Leser auf ihre Kosten wie auch diejenigen, die weniger der Politiker Adenauer interessiert, sondern mehr die Geschichte und Kultur der Landschaft um einen der schönsten Seen Europas.

Für die italienische Literaturgeschichte ist dieser See von großer Bedeutung, weil hier der von Alessandro Manzoni geschriebene Roman „I promessi sposi“ („Die Brautleute“), angesiedelt ist. An ihn erinnert der Autor Schramm ebenso ausführlich wie an die Geschichte der vielen, an den Ufern des Sees anzutreffenden luxuriösen Villen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Tipps etwa über gute Speiserestaurants und touristische Highlights sollte man sich von diesem Buch nicht erwarten. Es ist eine oft auch sehr persönlich gehaltene Liebeserklärung eines Autors, der zu den ganz großen Kennern der norditalienischen Seen gehört.

Die Illustration dieses Buches mit ganz ausgezeichneten Bilddokumenten ist ein weiterer Grund, es wärmstens zu empfehlen. Konrad Adenauer hätte an dem Buch seine große Freude gehabt. Ob dem lakonischen Rheinländer Adenauer jedoch die gelegentlich etwas parfümierte Sprache des Reiseschriftstellers Schramm immer gefallen hätte, sei dahingestellt.

Godehard Schramm: Der Kanzler und der See. Lago di Como – Land und Leute, Kultur und Konrad Adenauer. Corso-Verlag 2012. 143 Seiten.

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