Geschrieben am 16. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Lucía Etxebarria: Von allem Sichtbaren und Unsichtbaren

Einfühlsames Psychogramm

Mit einem feinfühligen Entwicklungsroman etabliert sich die junge Spanierin Lucía Etxebarria als feste Literaturgröße.

Lucía Etxebarria ist eine der talentiertesten und innovativsten Stimmen in der jungen spanischen Literatur. Flott, frech und provokant kreisen die Romane der 37-Jährigen um weibliche Identitäten und Lebensentwürfe in postmodernen, urbanen Szenarien. Das Spannungsfeld reicht dabei von der – in Spanien noch einen ungeheuer hohen Stellenwert einnehmenden – Familie und Tradition auf der einen bis zur Emanzipation und wilden Lebenslust auf der anderen Seite. Und im Zentrum steht, wie könnte es anders sein, die Liebe in all ihren Facetten.

Obsessive Liebe
Obsessiv und fast tödlich ist die Liebe in Lucía Etxebarrias neuem Roman „Von allem Sichtbaren und Unsichtbaren“. Unvermittelt lernen wir ihre Protagonistin Ruth auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Madrid auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod kennen. Zum zweiten Mal innerhalb von sechs Monaten hat Ruth, eine „präraphaelitische Schönheit“ mit dunklen Augen, dichtem kastanienbraunem Haar und sinnlichen Lippen, versucht sich mit Schlaftabletten umzubringen.

Im Rückblick rekonstruiert Lucía Etxebarria nun aus verschiedenen Perspektiven, wie es dazu kommen konnte. Weit dringt sie in die Vergangenheit von Ruth ein, die in begüterten Verhältnissen aufwuchs und früh ihre Mutter verloren hatte. Während ihre Schwester Judith – „ihre Kehrseite, ihr Gegenstück, ihr Pendant“ – brav die vorgezeichneten Lebensbahnen einschlägt, zieht die neunzehnjährige Ruth mit einem schwarzen Musiker nach London. Zurück in Madrid macht sie sich als provokative feministische Filmemacherin einen Namen und führt als enfant terrible der (Kultur-) Szene einen ausschweifenden Lebenswandel mit vielen Affären. Doch trotz und gerade wegen ihres Ruhmes und der oberflächlichen Medienpräsenz ist die „Depression ihr täglich Brot, angerichtet mit dem Öl der Angst und dem Salz des Selbstmitleids“.

Explosive Spirale


In einer Lebensphase, in der sie langsam Abschied von den leuchtenden Versprechen der Jugend nimmt, lernt sie Juan kennen und stürzt sich in eine Liebesaffäre. Maßlos idealisiert sie diesen jungen, bornierten Dichter, der „verzweifelt auf der Suche nach Bestätigung durch andere ist“ und zu allem Überfluss in seinem Heimatort Bermeo fest liiert ist. Heftig prallen in der Folge zwei völlig verschiedene Charaktere und Lebensentwürfe zusammen, und es setzt sich eine explosive Spirale aus Verlangen, Eifersucht und Demütigung in Gang – bis auf schönste Weise aus dem Leben Kunst und aus der Kunst Leben wird.

Lucía Etxebarria zeichnet in „Von allem Sichtbaren und Unsichtbaren“ ein einfühlsames, dichtes Psychogramm ihrer Protagonistin. Fein nuanciert und mit großer Tiefenschärfe zeigt sie uns die „Irrungen und Wirrungen einer ziemlich neurotischen und dennoch liebenswerten Dreißigjährigen“, einer Frau, die sich nicht in vorgefertigte Lebensmuster pressen lassen, sondern sich ständig und wahrhaftig „neu erfinden“ will – mit allen Widersprüchen, Unsicherheiten und Risiken. Auch wenn Etxebarria hin und wieder allzu sehr psychologisiert und darüber das Erzählen vergisst, ist ihr ein wunderbarer Entwicklungsroman gelungen, mit dem sie sich endgültig als feste Größe in der spanischen Literatur etabliert hat.

Karsten Herrmann

Lucía Etxebarria: Von allem Sichtbaren und Unsichtbaren. Aus dem Spanischen von Catalina Rojas Hauser. Frankfurter Verlagsanstalt 2003. Gebunden. 480 Seiten. 24,90 Euro. ISBN 3-627-00108-7