Geschrieben am 20. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Lucía Etxebarría: Von Liebe, Prozac und Zweifeln & Beatrix und die himmlischen Körper

Jugend-Rebellion in den Zeiten von Techno und Ectasy

Man denke sich eine literarische Mischung aus J.D. Salinger, Breat Easton Ellis und Rainald Goetz mit einem kleinen Schuß Alice Schwarzer – dann weiß man ungefähr, was Lucía Etxebarría, einer der kraftvollsten und spannendsten Stimmen in der jungen spanischen Literatur, zu bieten hat.
In ihrem ersten Roman „Von Liebe, Prozac und Zweifeln“ buchstabiert die 34jährige Autorin am Beispiel von drei sehr unterschiedlichen Schwestern von A-Z das Alphabet heutiger Lebensgefühle durch – mit ungezügelter Energie und ohne jede Scham. Beginnen läßt sie ihr Debut mit einer wunderbaren metaphorischen Meditation über den Penis, um dann die jüngste Schwester Cristina unumwunden gestehen zu lassen: „Ich fühlte mich allein, gnadenlos allein, animalisch und gefräßig wie ein Piranha. Ich war gierig nach Wärme, Zärtlichkeit und Liebe.“
Cristina ist das energiegeladene und rebellische Zentrum im Schwestern-Dreigestirn: Während Ana ein gleichsam wohlsituiertes wie depressives Leben als Hausmütterchen führt und die kühle Karrierefrau Rosa in ihrem „konzeptuellen, strikt monochromen Appartment“ langsam vertrocknet, saugt Cristina das Leben in hemmungslosen Zügen ein. Sie hat „eine vielversprechende Karriere auf dem Sektor der Kommunikation sausen“ lassen, um statdessen zu kellnern, zu saufen und ausgiebige Raves zu zelebrieren:

„Ich löse mich in Musik auf, lösche mich aus, dehne und verwandle mich, werde flüssig und polymorph. Dann kommt ein roll o­n, ein radikaler Break im Rhythmus, gefolgt von einer verlängerten Sequenz, die sehr langsam beginnt, aufdreht, bis sie den Technorythmus wiedergefunden hat, stampfend und beharrlich im Takt des Herzschlags. Die Dunkelheit lädt dazu ein, sich treiben zu lassen, und schleppt mich bis zum Lautsprecher, der die monotone und geometrische, energetische und lineare Musik auskotzt, die vom Ectasy in meinem Kopf geschmeidig wird. […] Der DJ ist der neue Messias, die Musik das Wort Gottes“.

Lucía Etxebarría läßt Cristina in einer heftigen, obszönen und dennoch hochpoetischen Prosa vehement gegen die verkrusteten Konventionen einer streng katholisch geprägten Gesellschaft anstürmen und durchmißt dabei alle Höhen und Tiefen – so hat sie in ihrem Debut einen weiblichen Holden Caulfield der späten Neunziger geschaffen und da ist es verzeihlich, dass Ana und Rosa in ihrem angepaßten Lebensmustern etwas blass und holzschnittartig bleiben.

„Mit jedem Jahr schaufeln wir einen Berg Erde auf das Grab unserer Jugend“ – dieser exemplarische Satz aus dem Erstling von Lucía Etxebarría führt auch schon direkt in das Spannungsfeld ihres zweiten Romans „Beatriz und die himmlischen Körper“, mit dem sie sich in den spanischen Bestsellerlisten für Wochen nach ganz oben katapultierte. Lucía Extebarría erzählt hier in Rückblenden die Geschichte der manischen Jugendfreundschaft zwischen Bea und Monica, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden hart vor dem Abgrund endet – denn Monica gleicht einem „Pistola“, einem Mammutstern, dessen Problem in seiner eigenen Kraft liegt: „Seine Eruptionsphasen haben eine Nebelwolke aus Gas und Staub um ihn gebildet, die seine Atmosphäre erstickt.“

Wie schon in ihrem Erstling glänzt Lucía Etxebarría auch hier mit brillant-dynamischen Schilderungen aus der in sich in allen europäischen Metropolen ähnelnden Techno- und Drogen-Szene, in der die Gründe, um noch ein Nacht länger zu tanzen, nie ausgehen. Sie zieht den Leser hinein in die unerbittliche Spirale der glücksuchenden Techno-Genration, die vom ersten Kiffen und den ersten Ectasy-Pillen bis zur Überdosis Heroin führt.

„Beatrix und die himmlischen Körper“ ist eine spannungsgeladene und psychologisch sensible Entwicklungsgeschichte, die auch und immer wieder vom lustvoll-radikalen und in Spanien wohl noch viel schärfer empfundenen Aufstand gegen Familie, Traditionen und Konventionen erzählt:
„ Man wird als Mensch geboren. Nach zwei Tagen werden dir Ohrlöcher gestochen. Dir werden rosafarbene Babyschühchen angezogen. Und schon bist du ein Mädchen. […] Als ich fünfzehn wurde, hörte ich auf, zur Messe zu gehen. Als ich achtzehn wurde, küsste ich Mónica. Dann ging ich nach Edinburgh. Dort rasierte ich mir den Schädel und kaufte mir ein paar Springerstiefel. Auf der Straße konnte niemand sagen, ob ich ein Junge oder ein Mädchen war. Das war die letzte Grenzüberschreitung. Die letzte Grenzüberschreitung.“

Karsten Herrmann

Lucía Etxebarría: Von Liebe, Prozac und Zweifeln. Roman. List Taschenbuch. 314 S, 39.80 DM. ISBN: 3612650424