Ein schelmisches Meisterwerk
– Michael Köhlmeiers Schelmenroman umspannt ein halbes Jahrhundert und verknüpft weltgeschichtliche Ereignisse mit dem ebenso außergewöhnlichen wie außermoralischen Leben des Ich-Erzählers – ein grandioses Meisterwerk, das seinesgleichen in der deutschen und internationalen Gegenwartsliteratur sucht. Von Karsten Herrmann
Köhlmeiers Ich-Erzähler ist ein alter Freund des bereits aus seinen vorherigen Romanen bekannten Schriftstellers Sebastian Lukasser. Dass dieser, wie es auf der Hand liegen würde, nicht auch dieses Mal den Job des Erzählens übernommen hat, führt der titelgebende Ich-Erzähler selbst aus: „Ich habe ihm die Erlaubnis entzogen, mich erzählend zu retten. Ich möchte unter keinen Umständen meine Person verleihen und in einen Romanhelden umbauen lassen.“ Und so erzählt Joel Spazierer, nicht ohne den einen oder anderen stilistischen oder dramaturgischen Tipp von Lukasser zu erhalten und schreibend zu reflektieren, sein exzeptionelles Leben also selbst. Im Wechsel von Gegenwart und Vergangenheit entsteht ein mäandernder Roman voll sprudelnder Seitenarme und fantastischer Abzweigungen.
Ihren Beginn nimmt die Erzählung zu Zeiten der stalinistischen Säuberungen in Ungarn. In ihrem Zuge wird auch das Ehepaar Fülop verhaftet, und der zu Hause schlafende Enkel bleibt fünf Tage alleine in der Wohnung zurück: „Damals hieß ich András Fülop. Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt. Mit diesem Tag beginnt meine Erinnerung“ – und das Leben davor ist wie ausgelöscht. András wird in seine ganz eigene, von mythologischen Fabelwesen bevölkerte Welt katapultiert und verliert entscheidende soziale Wert- und Moralvorstellungen: „Das Menschsein als solches war mir fremd geworden, wie ich mich nicht mehr als Mensch begriff.“
Und doch besticht András mit seiner blitzenden Intelligenz, seinem golden gelockten Haar und einem sommersprossigen Engelsgesicht alle seine Mitmenschen. Ihm werden fortan Tür und Tor geöffnet, sie schamlos und oftmals ohne Worte zu manipulieren und zu ruinieren.
Das große Abenteuer setzt ein, als die Familie Fülop noch vor dem Aufstand in Ungarn 1956 nach Österreich flüchtet und dort in Wien bei einem befreundeten Ägyptologen unterkommt. Hier entwickelt sich im zarten Alter von acht Jahren schlagartig András Karriere als Stricher, Erpresser und Verbrecher. Schon mit siebzehn Jahren begeht er dann, eher aus Versehen, seinen ersten Mord. Nach seiner Verurteilung fügt er sich problemlos in die Knasthierarchie, freundet sich mit dem Gefängnisdirektor an und wird vorzeitig und mit neuer Identität entlassen: „Ich war frei, freier als alle: Denn den, der ich nun war, hatte ich mir selbst ausgesucht.“ Sein größtes Schelmenstück gelingt Spazierer, als er 1979 als Enkel von Ernst Thälmann in die DDR einreist und bis in die engste Führungsriege um Erich und Margot Honecker sowie Erich Mielke aufsteigt.
Vor der detailreich gespickten Folie der weltgeschichtlichen Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts lässt Michael Köhlmeier seinen Helden eine durch Himmel und Hölle führende, atemberaubende Achterbahnfahrt absolvieren. Mit stilistischer und dramaturgischer Meisterschaft zeichnet er das packende und hochintelligente Porträt eines Menschen, der jenseits aller Moral lebt und die Lüge zur Überschrift seiner Existenz macht – und der doch immer im Reinen mit sich und vollkommen authentisch ist: „Ein Begriff wie Selbstbetrug erschien mir als eine Absurdität.“
Dieser Joel Spazierer erfindet sich mit leichter Hand immer wieder neu, wechselt spielend seine Masken und Identitäten und lebt jeden Tag, als wäre es nur ein erster Entwurf, der beliebig zu korrigieren ist. Trotz seiner monströsen Taten ist er eine erstaunlich sympathische Romanfigur, an der die Kategorien Gut und Böse wie an einer Teflonpfanne abperlen. Joel Spazierer ist ein ganz und gar unbekümmerter Schelm, der die literarische Größe hat, um in eine Reihe mit Don Quichotte, Simplicissimus, Schwejk oder Felix Krull gestellt zu werden.
Karsten Herrmann
Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer. Carl Hanser Verlag 2013. 654 Seiten. 24,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Porträtfoto Michael Köhlmeier: wikimedia commons 2,0/Schmieren.