Geschrieben am 13. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Michael Roes: David Kanchelli

Düstere Zukunfts-Parabel

Mit seinem vierten Roman hat Michael Roes seine singuläre Stellung in der deutschen Gegenwartsliteratur eindrucksvoll unterstrichen

Michael Roes ist einer der kompromisslosesten deutschen Autoren: Konsequent brandmarkt er in seinen Romanen mit avancierten literarischen Mitteln und ethnographischem Blick die vielfältigen Facetten des Kolonialismus und Rassismus in Vergangenheit und Gegenwart. Kein Hauch von postmoderner Ironie und unverbindlicher Travestie ist bei dem 1960 geborenen Wahlberliner zu spüren, sondern nur der unbedingte, von tiefem Ernst und offensichtlichem Mitleiden getriebene Einsatz gegen das Unrecht unserer Welt.

In seinem neuen Roman „David Kanchelli“ verlagert Michael Roes das literarische Geschehen in eine Zukunft, in der sich die Globalisierungs-Gefahren der Gegenwart und die kolonialen Sünden der Vergangenheit auf fatale Weise vereinigen und bitterböse Blüten treiben. Ausgangspunkt ist die vom „Großen Versöhner“ geschaffene „Union“ mit ihrer High-Tech-Retortenhauptstadt Corpus Christie. Das Zeitalter der Freizügigkeit ist hier vorbei und hat einem rigorosen Moralismus Platz gemacht. Bücher existieren nicht mehr, denn jeder Bewohner der Union ist durch das Netz mit einer virtuellen (und selbstverständlich streng zensierten) Universalbibliothek verbunden. Der Union angeschlossen sind die „Territorien“ – und bilden trotz aller gegenteiligen Proklamationen zwei vollkommen getrennte und verschiedene Nationen: „Eine reiche und eine arme. Eine freie und eine rechtlose. Eine helle und eine dunkle.“

In dieser gespaltenen Union ist der aus den Territorien stammende David Kanchelli des Hochverrats angeklagt und sein älterer Bruder Ephraim, der Präsident – „weiße Maske, schwarze Haut“ – muss über dessen Tod oder Leben entscheiden. Anhand der Prozessakten und der Tagebücher seines Bruders sowie seiner eigenen Erinnerungen versucht Ephraim zu rekonstruieren, was passiert ist.

Im Wechselspiel der verschiedenen Textformen entfaltet Roes ein packendes psychologisches Kammerspiel vor den dramatischen Ereignissen des Welttheaters: David, ein gut aussehender, intelligenter und selbstbewusster junger Mann, stand vor einer großen diplomatischen Karriere in der Union – doch dann bekam er den Auftrag, in der Unions-Kolonie Songhai eine Affäre um den Bauxitabbau aufzuklären. Es wird ein „Himmelfahrtskommando“, eine Reise in das finstere Herz der Nacht: „Überall in diesem Land ist der Tod gegenwärtig“. Songhai, wo die flimmernde, aschweiße Luft die Haut in Fetzen schneidet und auf dessen vergifteten Boden kein Grashalm mehr wächst, ist das „Land der Selbstauslöschung.“

David entdeckt, dass Songhai in einem Komplott von globalen Großkonzernen und Geheimdiensten sowie mit stillschweigender Duldung der Union mit unerhörter Grausamkeit und Menschenverachtung versklavt und ausgebeutet wird. Doch spricht aus seinen Tagebüchern nicht nur das unfassbare Unrecht an den Einheimischen, sondern auch eben jener ethnologische Blick, wie ihn uns Michael Roes schon in seinem Erstling „Leeres Viertel“ so faszinierend vorführte: Hier wird die staubige Hitze, der Geruch von Menschen und Speisen und eine offene Sexualität mit intensiver Sinnlichkeit beschrieben – und kontrastiert mit der über weite Strecken so ernsthaften Sprödigkeit der Roesschen Prosa.

David Kanchelli – dessen Figur auf dem realen Vorbild des englischen Diplomaten Roger David Casement basiert – erfährt durch seine Untersuchungen das Heuchlerische einer hochzivilisierten Nation, die pathetisch von Moral und Sittlichkeit predigt und sich dabei längst dem Diktat des gewissenlosen Profits unterworfen hat. Der Kampf um eine gerechtere Ordnung führt ihn luziden Blickes in den Untergrund: „Manchmal können wir eine Idee nur retten, wenn wir uns für sie opfern.“

Mit seinem vierten Roman hat Michael Roes seine singuläre Stellung in der deutschen Gegenwartsliteratur eindrucksvoll unterstrichen: Seine düstere Parabel über den neuen Kolonialismus der global operierenden Großkonzerne und das Auseinanderschießen der Wohlstands-Schere in den westlichen Industrienationen selber trifft den Leser mit voller Wucht und eröffnet hinter dem gleißenden Schleier unserer Medien-Maya den unendlichen Horizont des Unrechts.

Karsten Herrmann

Michael Roes: David Kanchelli. Berlin-Verlag, 330 S., 19,90 Euro, ISBN: 3827003938