Geschrieben am 28. September 2009 von für Bücher, Litmag

Mirko Bonné: Wie wir verschwinden

Mythenbeschwörung

Verstörende Erinnerungsfragmente, infantile Ausbruchsversuche, riskante Neuanfänge: Mirko Bonnés eindrucksvoller Roman Wie wir verschwinden. Von Peter Münder

Als der pensionierte, herzkranke Unternehmer (und Ich-Erzähler) Raymond ganz überraschend Briefe von seinem längst vergessenen und inzwischen verhassten Jugendfreund Maurice erhält, lässt er sein Leben Revue passieren und räsoniert über gescheiterte Beziehungen. Wie konnte es vor über vierzig Jahren zum Bruch mit Maurice kommen, warum mischt der sich immer noch in sein Leben ein, welche Beziehung hatte er zu Raymonds verstorbener Ehefrau Véronique? Damals in Villeblevin war die Welt der beiden Jungs noch in Ordnung: Sie bastelten heimlich an einer schrottreifen Draisine herum, mit der sie dann aus ihrem Dorf verschwinden wollten in eine aufregendere Welt, sie hatten ihre ersten Liebschaften, sie ärgerten den Hausmeister, dessen laszive junge Frau sie so aufregend fanden, und sie waren begeistert von einer ultra-modernen Hochgeschwindigkeitslok, die regelmäßig über die nahe gelegene Bahnstrecke donnerte, dass sie jeden Tag an der Strecke standen, um die Geschwindigkeit dieser rollenden Ikone zu messen, und die gestoppten Zeiten akribisch in einem Notizbuch notierten. Nach dem Tod seiner Frau lebt Raymond nun in einem gutbürgerlichen Haus in der Nähe von Versailles, er wird von seinen beiden Töchtern Jeanne und Pen besucht und versorgt, mit dem Schwiegersohn liefert er sich heiß umkämpfte Duelle am Schachbrett. Da der Rekonvaleszent nach einer Herzoperation wieder unternehmungslustig wird, könnte er also ganz optimistisch sein. Aber die Briefe von Maurice und dessen damit signalisierte Kontaktversuche lösen ein latentes Unbehagen und eine große Verunsicherung aus. „Wie wir uns täuschen“, könnte der Roman auch heißen. Denn plötzlich zerfällt Raymonds heile Welt. Seine geliebte Tochter Jeanne steht ganz überraschend vor den Trümmern ihrer Ehe, und einige Passagen in den Briefen scheinen auf eine frühere Affäre zwischen Maurice und Raymonds verstorbener Ehefrau hinzudeuten – das trifft Raymond besonders hart und zermürbt ihn regelrecht.

Doch Mirko Bonné, 44, in Tegernsee geboren und jetzt in Hamburg lebend, gibt sich mit diesem nostalgisch-verklärten Blick zurück auf idyllische und schließlich auch ernüchternde Episoden nicht zufrieden. Er hat die Lyrik von John Keats und W. B. Yeats übersetzt und sezierte in seinem spannenden Abenteuerroman Der eiskalte Himmel (2006) das brisante Konfliktpotenzial im Beziehungsgeflecht der Antarktisforscher rund um den legendären Abenteurer Sir Ernest Henry Shackleton. Das eskapistische, fast zwei Jahre dauernde „Aus der Zeit fallen“ war dort das beherrschende Leitmotiv, das in Wie wir verschwinden in abgemilderter Form variiert wird. Der Faktor Zeit, die von Sten Nadolny mit lyrischer Intensität beschworene Entdeckung der Langsamkeit treiben Mirko Bonné immer noch stark um: Er kombiniert daher in einem zweiten Erzählstrang Raymonds Retrospektive und die Darstellung des Draisinen-Ausflugs mit dem tragischen Autounfall auf der Landstraße bei Villeblevin, bei dem der Literaturnobelpreisträger Albert Camus am 4. Januar 1960 ja tatsächlich ums Leben kam.

Während die Dorfidylle der beiden Jugendlichen realistisch-dokumentarisch beschrieben wird, erhält die wie in einem Zeitlupen-Epos festgehaltene Vision vom apokalyptischen Ende des Autors Camus (Der Fremde, Die Pest) tragisch überhöhte Züge, die wie Szenen aus einem düsteren Drama von Aristophanes anmuten.

Fahrt in den Tod

Zeig mir die Fahrt in den Tod: Schwärme kreischender Krähen und Elstern trudeln hinter dem mächtigen, mit rasendem Speed über die regennasse Landstraße donnernden Facel Vega her, in dem Albert Camus als Beifahrer zusammen mit dem Fahrer Michel Gallimard, dem Neffen des berühmten Verlegers, sowie dessen Frau Janine und deren Tochter Anouchka sitzt. Camus hatte seine Bahnkarte verfallen lassen, um mit Gallimard und dessen Familie nach einer Geburtstagsfeier für die Tochter schneller nach Paris zu gelangen. Außerdem hatten sie über das neue Romanmanuskript von Camus und über dessen Theaterprojekte für Avignon gesprochen, was alle Beteiligten in eine geradezu euphorische Stimmung versetzte. Dementsprechend rasant hetzt Michel Gallimard den bombastischen Facel Vega über die Landstraßen. Mit an Bord ist noch ein kleiner Hund, der im Auto ständig herumwieselt und auch mal nach vorne aufs Lenkrad springt – ein ständiger Unruhefaktor, der die Harmonie dieser heiteren, nach innen gerichteten Stimmung stört. Albert Camus hat einen Koffer auf den Knien, er hält schon seinen Schlüsselbund in der Hand, im Radio singt Yves Montand ein Chanson von Jaques Prévert, man plaudert und scherzt über rasante Autos, den klitschnassen, stinkenden Hund und ausgerechnet über Lebensversicherungen.

Ein geplatzter Reifen, der tollkühne Gallimard, der den exklusiven 8-Zylinder-Sportwagen mit fast 300 PS mit über 130 km/h über die verregnete Landstraße knüppelt und mit der blanken Felge des schleudernden Facel Vega riesige Furchen in den Asphalt fräst – dies bedeutete für den Fahrer Gallimard und seinen Beifahrer Camus schließlich den Tod, während die beiden hinten sitzenden Frauen den Unfall überlebten. Auf dieses aus unterschiedlichen Perspektiven beschriebene Desaster bereitet uns Bonné in atmosphärisch dichten Sequenzen und Bildern vor. „Was dort herandonnerte, musste ein tonnenschweres Geschoss auf vier Rädern sein, ein Projektil, das durch den Tag flog“, überlegt ein erschrockener Radfahrer, der das vorbeirasende Coupé zufällig beobachtet. „Der Lärm, den er aus dem Birkenwäldchen hörte, fuhr ihm durch die Glieder wie das Kreischen der deutschen Stukas.“

Wirbelnder stream of consciousness

Im Stil von James Joyce oder Virginia Woolf entfaltet Bonné einen beeindruckenden, anrührenden, wirbelnden stream of consciousness, der Camus’ letzte Gedanken und Assoziationen unmittelbar vor seinem Tod vermittelt. „Jetzt, da die Kinder und seine Familie ihm entglitten, die vier Frauen, die er liebte, der Roman, das Theater, die Überzeugung, kämpfen zu müssen für sein Land, Algerien, die Wüste, das Meer, seine Mutter, jetzt, da ihm alles entglitt … sah er den Baum. Kein anderer würde es sein. Der glänzende Baum, kahl und schwarz, mit einem Muster aus großen goldenen Flecken das letzte Geschöpf, das ihn mit aller Macht anzog. Es war gut, wenn er in diese Arme flog, denn er spürte, es gab keinen Grund mehr, seine Nacktheit zu leugnen. Keine Fragen mehr. Alles wurde spielerisch. Es hatte keine andere Tiefe als die der Schmerzen, die auf ihn warteten und unerschöpflich sein würden. Eine wundersame Weisheit und eine Leidenschaft ohne ein Morgen vereinigten sich in den Goldflecken der Platanen und nahmen sie vier und den kleinen Hund auf … Der Facel raste gegen den Baum. Er rammte den Stamm zwischen den Scheinwerfern der Beifahrerseite und dem Kühler. Holzsplitter, Blechteile und Borkenfetzen, Chrom und Zweige prasselten gegen die Windschutzscheibe und wirbelten über das Dach kratzend davon. Um sein Gesicht zu schützen, hob Camus die Arme. Sie brachen an der Scheibe, die Arme brachen ihm die Nase, er schmeckte das Blut, das er vor sich über das Glas gespritzt sah, er spürte in der Faust den Schlüsselbund und zugleich den Schmerz in den zertrümmerten Armen …“

Den tragischen Tod des 47-jährigen Albert Camus empfanden seine Zeitgenossen damals als Skandal; der entsetzte Sartre sprach trotz der erbitterten Fehden mit dem Anti-Stalinisten Camus, von dem noch so viele bedeutende Werke erwartet wurden, von einer „unerträglichen Absurdität“.

Bonné ist jedoch nicht auf die politischen Querelen, Debatten und Kontroversen der Existentialisten fixiert, er interessiert sich auch nicht für den ideologischen Riss, der damals durch die marxistisch orientierten Gruppen ging. Er komprimiert diese letzten Minuten zu einem impressionistischen Wirbel, den er als Stimmungsbild wie durch eine laufende Kamera vor uns ablaufen lässt.

Während der Facel Vega fast im freien Flug eine Pappel rammt und dabei geradezu pulverisiert wird, endet das Draisinen-Abenteuer der beiden Jugendfreunde im erbitterten Streit, der das Ende ihrer Freundschaft markiert. Denn Maurice hatte damals seinem Freund Raymond die Freundin ausgespannt und diese entgegen ihrer getroffenen Vereinbarung sogar zur Fahrt auf der restaurierten Maschine eingeladen, mit der sie verschwinden wollten aus dem diffusen Nebel einer verschlafenen Provinz.

Raymond hatte diesen Verrat des Freundes als unerträgliche Zäsur empfunden, die das Ende einer glücklichen Kindheitsphase markierte. Aber hatte er diese schmerzliche Wahrheit während der letzten vierzig Jahre bis zum Empfang der Briefe des todkranken Maurice nur verdrängen wollen? Empfindet er das aufgezwungene „Aufwühlen der Vergangenheit“ deshalb wie eine ekelhafte Strafmaßnahme? Hat Raymond also auch, wie der von Camus in seinem berühmten Essay geschilderte Sisyphos, eine quälende Fronarbeit zu leisten, die nie endet? Immerhin hatte Camus ja in Der Mythos von Sisyphos behauptet, wir müssten uns Sisyphos „als glücklichen Menschen“ vorstellen, weil er nun ganz auf sich und seine Probleme zurückgeworfen sei und sich auf diese konzentrieren könne, ohne von äußeren Einflüssen abgelenkt zu werden.

Erst allmählich wird deutlich, was Mirko Bonné mit der Kombination dieser beiden Welten so völlig unterschiedlicher Geschwindigkeiten beabsichtigte: Den Mythos vom Glück will er in diesem grandiosen Roman beschwören und klarstellen, dass der lebenslang geführte Kampf gegen die Katastrophe permanent weiter geführt werden muss . Auch nach einer gescheiterten kleinen Flucht mit einer restaurierten Draisine.

Peter Münder

Mirko Bonné: Wie wir verschwinden.
Frankfurt/Main: Verlag Schöffling & Co. 2009. 339 Seiten. 19,90 Euro