Mode- und Kulturgeschichte at its best
– Allen Fashion Weeks und -Blogs zum Trotz gilt hierzulande das Bekenntnis zur Mode noch immer als oberflächlich, nicht authentisch und antiintellektuell. Wer auf seine/ihre inneren Werte verweisen will, zieht sich bewusst nicht-modisch an, um jeglichen Ruch der Haltlosigkeit zu vermeiden.
Aber zum Glück gibt es ja Barbara Vinken, Professorin der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Romanischen Philologie – und große Modekennerin und -liebhaberin – die in ihrem Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ so manches Vorurteil mit verblüffenden historischen Tatsachen eben als Vorurteil überführt.
Wir verdanken Frau Vinken seit vielen Jahren nicht nur Studien über z.B. die deutsche Mutter, sondern zusätzlich geistreiche Abhandlungen über Mode wie ihr Essay von 1992, „Mode nach der Mode“, in dem sie auf wenigen Seiten erläutert, warum ein Kleid nicht einfach nur ein Kleid ist. In „Angezogen“ holt sie weiter aus, lehrt die LeserInnen das Zeichenlesen und geht dafür in der Geschichte bis in die Antike zurück und beobachtet jetztzeitige Modehäuser wie Maison Martin Margiela.
Schon der Einstieg ins Buch ist frappant: anhand der in der westlichen Welt allgegenwärtigen nylonbestrumpften Damenbeine in wahlweise Stiefel oder Pumps erklärt Barbara Vinken den Paradigmenwandel des Angezogenseins. Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein war das Zeigen der Beine in engen Strümpfen plus verlängernd wirkender Schuhe mit Absatz oder eben Stiefeln Männern vorbehalten – ein militärischer, soldatischer Style, der Respekt einflößen sollte. Frauen verhüllten ihre Beine selbstverständlich. Dass Frauen heute kurze Röcke und Hosen tragen, ist also die Übernahme, das Zitat eines genuin männlichen Kleidungsstils – Barbara Vinken drückt es natürlich elaborierter aus, aber im Grunde zeigt sich hier ein Dilemma der Frauenmode: sie hinkt beziehungsweise stöckelt den Herren hinterher, während der Mann im Anzug völlig „unmodisch“ und damit zeitlos und ungehindert seinen Geschäften nachgeht.
Das „Unmodische“ der Damenkleidung mit ihrem „ornamentalen Orientalismus“, von Philosophen wie Nietzsche als weibisch und daher indiskutabel deklariert, zieht sich als roter Faden durch Vinkens Buch. Die Nebenarme sind aber ebenso erhellend und lesenswert: das Kapitel über die Gentlemen of Bacongo beispielsweise, kongolesische Einwanderer in Paris, die sich als „Sapeurs“ bezeichnen (von SAPE: Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes ) und mit ihrer dandyesken Kleidung Stolz und Würde ausstrahlen wollen. Oder Vinkens Interpretation der Kleidung Michelle Obamas: die farbenprächtige, leuchtende, betont feminine Haute Couture der First Lady lässt keinen Zweifel daran, dass ihr Gatte Barack im wahrsten Sinne des Wortes der Herr im Weißen Haus ist, siehe oben: der Mann im Anzug, die Frau im orientalen Modegewand.
Am Packendsten sind Vinkens Erläuterungen zu zeitgenössischen Designern wie Rei Kawakubo (Comme des Garçons), MMM (Maison Martin Margiela) und vor allem zu Alexander McQueen, Enfant terrible der britischen Modeszene, der seinem Leben 2010 selbst ein Ende setzte. Während Kawakubo und Margiela bevorzugt Schnitte und Körperformen dekonstruieren und neue Sichtweisen auf Kleider und Körper geradeweg provozieren, erzählte McQueen in seinen regelmäßig als skandalös bezeichneten Schauen wie „Highland Rape“ die Geschichte Schottlands – mittels gemarterter Körper und Tartanmuster.
Mode ist also oberflächlicher Tand? Mitnichten. Vinkens Buch ist Kulturgeschichte at its best – die auch schon viele lesen wollten: seit dem Erscheinen im November 2013 erfuhr „Angezogen“ bereits fünf Auflagen.
Für alle Modeskeptiker und -fans
Nicht ganz so populär wie Vinken aber nicht minder interessant ist „Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis“ von Prof. Dr. Gertrud Lehnert (übrigens auch eine Literaturwissenschaftlerin: soll mal einer sagen, GeisteswissenschaftlerInnen verstünden nichts von Mode und Ästhetik).
Lehnert erklärt beispielsweise ebenfalls mit Comme des Garçons die Variation und Dekonstruktion des Blicks auf den (meist weiblichen) Körper („vestimentäre Skulpturen“); streift in ihrem Buch aber auch soziokulturelle Phänomene wie Kaufrausch (dem schon Emma de Bovary erlag und bitter dafür büßen musste), der ihrem Empfinden nach vom Anthropologen Daniel Miller („Stuff“) viel zu positiv-pro-kapitalistisch eingeschätzt wird.
Lehnert befasst sich auch mit der Präsentation von Mode in Designerläden oder auf Theaterbühnen und widmet sich eingehend der persönlich-alltäglichen Mode- und Körperpraxis (= anziehen und stylen).
Auch dieses Buch gehört auf die Nachttische aller Modeskeptiker und -fans!
Christina Mohr
Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Klett-Cotta, 2013. 255 Seiten. 19,90 Euro, eBook 15,99 Euro. Zur Homepage von Vinken.
Gertrud Lehnert: Mode. Theorie, Geschichte und Ästhetik einer kulturellen Praxis. transcript Fashion Studies 2013. 200 Seiten. 24,90 Euro.