„Wir sind alle Migranten in der Zeit“
– Der in Pakistan geborene und über Harvard, Princeton, New York und London wieder nach Lahore zurück gekehrte Mohsin Hamid ist ein nicht nur literarischer Wanderer zwischen den Welten. Von Karsten Herrmann
In seinem neuen Roman greift Hamid nun eine der entscheidenden und von ihm hautnah erfahrenen Fragen für die Zukunft unserer aus den Fugen geratenen Welt auf: Wie ist denen aus der kulturellen, ökonomischen und existentiellen Kluft zwischen Ost und West, zwischen Arm und Reich, zwischen Krieg und Frieden resultierenden Migrations- und Fluchtbewegungen zu begegnen?
Hamid erzählt die Geschichte von Saeed und Nadia, die in einer muslimisch geprägten Stadt am Rande des Bürgerkrieges aufwachsen. Saeed arbeitet bei einer Werbefirma und lebt zu Hause bei seinen geliebten Eltern, Nadia hat früh mit ihren Eltern gebrochen, lebt alleine in einer kleinen Wohnung, fährt Motorrad und trägt zum Schutz gegen aufdringliche Männer stets schwarze Gewänder. Sie lernen sich kennen und lieben und sind beider gleichermaßen von der Magie ihrer Handys betört, die Zeit und Raum überwinden und ihnen „Sex und Sicherheit und Überfluss und Glamour“ zeigen.
Als die Lage in ihrer Stadt eskaliert, ihr Wohnviertel von Extremisten erobert wird und „Wellen von Hinrichtungen“ über die Stadt schwappen, beschließen sie in ein besseres Leben zu fliehen. Und an dieser Stelle führt Hamid, wie jüngst auch Colson Whitehead in seinem Sklaven-Drama „Underground Railroad“, ein Stück Phantastik in sein bis dato realistisches Erzählen ein: Für ihre Flucht müssen Saeed und Nadia nur durch eine jener geheimen Tür treten, von denen es hieß, „das Durchschreiten […] sei wie Sterben und Geborenwerden zugleich“ und finden sich schon am Strand von Mykonos in einem großen Flüchtlingscamp wieder. Einige Tage später durchschreiten sie die nächste Tür und landen in einem Schlafzimmer in London – in einem in die (nahe?) Zukunft projizierten London, in das schon ein Million Flüchtlinge geströmt sind, die Häuser und ganze Stadtviertel besetzt halten und die von ausländerfeindlichen Mobs bedroht und gejagt werden. Auch in anderen europäischen Metropolen spitzt sich die Lage zu und so durschreiten Nadia und Saeed eine weitere Tür und gelangen an die Küste von San Francisco.
Mohsin Hamid erzählt in „Exit West“ in einer ebenso kristallklaren wie poetischen Prosa auf einfühlsame Weise von der Liebe und Flucht eines jungen Paares, zeigt ihre Hoffnungen, zeigt, wie sie sich auf dem Weg verändern, zu anderen Menschen werden und sich schließlich voneinander entfernen. Er bettet diese berührende Geschichte geschickt ein in die uns aktuell unter den Nägeln brennenden Fragen nach der Zukunft unserer globalisierten Gesellschaft. Er entwirft dabei ein doppeltes Zukunfts-Szenario, in dem gleichermaßen Bürgerkriege in europäischen oder US-amerikanischen Städten mit und um die MigrantInnen wie auch neue gemeinsame Lebensformen in einer offenen, kreativen und multikulturellen Gesellschaft möglich erscheinen.
Letztlich, so eine weise alteingesessene Frau in den Bergen von San Francisco, scheint es aber doch so, „dass wir alle migrieren, selbst wenn wir unser Leben lang im selben Haus bleiben, denn wir können nichts dagegen tun. Wir sind alle Migranten in der Zeit.“
Karsten Herrmann
Mohsin Hamid: Exit West. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont 2017. 224 Seiten. 22,00 Euro