Halluzinativer Berlin-Trip
Mit avanciertem Furor jagt Norman Ohler den Leser durch Metropolen- und Bewusstseinslandschaften des 21. Jahrhunderts.
Fast könnte man Norman Ohler für einen Ur-Ur-Enkel der Berliner Frühexpressionisten mit ihrer dynamisch-sinnlichen Großstadtprosa- und lyrik halten: Auch bei ihm wummert und ruckelt es, Sirren die Trams, Gleißen die Lichter, Glimmen die Zigaretten. Ein wahrnehmungsträchtiger Großstadtfilm in expressiven Wortkaskaden entfaltet sich hier und Schauplatz ist die „Mitte“ – nicht die Mitte des Seins, nicht die Mitte der Welt, sondern Berlin-Mitte, das hippe Szene-Viertel in der Hauptstadt, wo die Trends gesetzt werden und das Alte – Menschen, Häuser – dem Neuen unausweichlich weichen muss. Doch, so raunt es aus dem Buch, „bevor sie unseren Körpern den Raum nehmen, hauen wir ab. Werden wir zu puren Geist.“
So sind auch schon die zwei Pole markiert, zwischen denen Norman Ohler seinen Roman kunstvoll oszillieren lässt: Zwischen dem urbanen Feuerwerk der Materie und dem „inner space“, dem Bewusstsein, in dem – nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Mauerfall – neue Grenzen zu überwinden sind. Das Individuum wird zu einem Staat, den es zu reformieren gilt und das Ziel heißt: „die Gegenwart, den Schmerz, der nie stillsteht, zu überwinden in einem großen, ewigen, nichtoxidierenden Moment.“
Doch von den großen Linien und Bewegungen zum Konkreten: Norman Ohlers Protagonist Klinger siedelt aus London, wo er seinen Job als „Content“-Manager verloren hat, nach Berlin über und mietet sich günstig eine Wohnung in einem Altbau mit kafkaesken Dimensionen: „ein riesiger, hallender, in Treppen, Etagen und Räume unterteilter Schädel, der auf der Halskrause der versiegelten Stadtoberfläche saß, während Torso und Beine tief in der Erde steckten, drunten im Sumpfland, wo es feucht und grünblau brannte.“ In diesem Labyrinth trifft Klinger auf seinen vermeintlich bei einem Brand umgekommenen Vorgänger Igor. In einem abgelegenen Kabuff, dem „Annex“, sucht dieser nach „Klängen, die klar machen“ und experimentiert mit der neuen synthetischen Droge Ketamin: Ein Trip wie eine Sterbesimulation, ein Möbiusband in den Tod: „ganz kurz dippst du ein, wirst dann aber nicht zurückgezogen, sondern fliegst einmal hindurch“.
Igor ist ein subversiver Geist in Burroughscher Tradition und setzt der im Sog der Immobilienspekulanten nach Berlin Mitte strömenden „neuen Mitte“, den Hedonisten und Konsumrittern der Republik, radikalen Widerstand entgegen – denn allzu sehr hinkt das drohende Diesseits seinen Vorstellungen von einem „wahrhaft intensiven Dasein“ hinterher. Igors apokalyptischer Guerilla-Krieg wird mit Klängen und Schallwellen ausgefochten, die sowohl die Mauern des Inneren wie des Äußeren einstürzen lassen sollen. Als Verbündete zieht er Klinger und bald auch dessen neue Bekanntschaft Sophie immer tiefer in den Bann seines morbiden Schattenreiches. Klinger beginnt zu ahnen, das Igor sie bis in den Tod hineinziehen würde, wenn es ihm nicht gelänge, „diese Zeitblase zu zerstechen, die sich im Annex gebildet hatte, als Zerrspiegel der Verformung der Stadt, jenem Prozess, der das ganze Gemeinwesen durchschüttelte – der in die Knochen kriechenden Kälte der Hauptstadtgeburt.“
Norman Ohler hat mit „Mitte“ einen sprachlich äußerst avancierten und dynamisch-expressiven Berlin-Roman vorgelegt. Auf ebenso faszinierende wie auch zuweilen irritierende Weise führt er durch Metropolen- und Bewusstseinslandschaften des neuen Jahrtausend, bietet einen halluzinativen Trip durch anarchisch-spirituelle Underground-, Techno- und New Age-Diskurse. Wie ein Mantra hallt durch die „Mitte“ dabei Igors Lebens-Maxime: „Du musst erst sterben, um auf frische Gedanken zu kommen.“
Textauszug:
„ Die Strassenbahn fuhr in Richtung Zentrum, ruckte um Ecken und glitt über Plätze, beschleunigte summend auf Geraden, bremste sirrend ab, wenn Haltestellen nahten, klingelte und stockte, währen die schwache Innenbeleuchtung flackerte, immer wieder aussprang, und dann war kaum etwas zu sehen, die nachmittägliche Stunde von dichten Nebeln verschluckt, und Klinger nickte weg, wachte auf, blinzelte, und die Lichter wurden fahler, er schreckte hoch, niemand war sonst in der Bahn, doch -“
Karsten Herrmann
Norman Ohler: Mitte. Rowohlt Berlin, 255 S., 39,90 DM. ISBN 3 87134 427 3.