Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Diesen Monat: einen Auszug der Geschichte „Kinder & Wolfe“ aus Carlo Schäfers Erzählband „Schmutz, Katz und Co.“, erschienen im September 2016 im Print und als eBook bei CulturBooks.
I.
Herbst 1996
Tobias Schmutz
Mein F.A.Z.-Fragebogen
Warum?
Einfach so – Scheiß Fernsehprogramm
Was ist für Sie das größte Unglück?
Prohibition
»So, Herr Schmutz …«
»Ich heiße Schmuuz, mit langem ›u‹.«
»Aber es wird ›Schmutz‹ geschrieben.«
»Sie können mich. Geben Sie mir den Brief, ist ja doch …«
»Ich lasse mich von so einem nicht beleidigen. Wissen Sie …«
»… ein Strafzettel. Her damit.«
»… was man über Sie sagt?«
»Das ist mir egal. Verstehen Sie? Mich interessiert nur, was unser Herrgott über mich denkt.«
»Und so was ist … naja, bei den Evangelischen.«
»Soll ich Ihnen mal was über die katholische Kirche erzählen? Eine Ansammlung von Mafiosi und verklemmten Schwulen – hängen Sie mir jetzt nichts an, ich habe überhaupt nichts gegen Schwule, der Apostel Thomas war schwul wie ein Balletttänzer. Aber ihr gebt es nicht zu! Der Vatikan verbietet Kondome und stellt sie selbst her! So ist das! Die Kuttenbrunzer erzählen der ganzen Welt, was Sünde ist und halten in den Katakomben den Popo hin oder schänden Ministranten! Und Sie? Sie wagen es, den Protestantismus zu tadeln und gehören zu etwas, was man allenfalls eine Bande nennen kann! Aber, aber, natürlich! Solange Kirchturm und Pimmel stehen, braucht man sich nicht weiter in Gedankenarbeit stürzen. Da wird auch mal die Schwiegertochter in die Reben gezerrt, das ist doch ganz egal, kann man wegbeichten. Die Inquisition, der Ablasshandel, die Überbevölkerung, was Ihr Dreckspatzen mit Galilei gemacht habt! Sie sind in einer kriminellen Vereinigung und Sie haben einen Pissfleck auf der Uniform, Herr Postmann. Das Einschreiben her. Sofort.«
Nachdem Tobias Schmutz das Streitgespräch mit dem Oberhornberger Postbeamten beendet hatte, war er von ganz heiterer Gemütslage und verließ ungeachtet seiner beträchtlichen Leibesfülle federnd das Postamt. Jenes ihm am Vortag nicht zustellbare Schreiben – er hatte einen frommen Rausch ausgeschlafen – war in der Tat ein Strafzettel. In einer Gegend Pforzheims, wo man einen Parkschein zu lösen hat, hatte er – seinerzeit dort amtend – keinen gelöst, weil er der hässlichen Stadt keinerlei Einnahmen gönnte. Nun waren aber zu 10 Mark eigentlichem Bußgeld mittlerweile enorme Verwaltungs- und Mahnsummen hinzugekommen. Um seine gute Laune nicht zu gefährden, warf er das Schreiben weg.
Brüllend laut Jamiroquai hörend, pflügte Schmutz mit seinem verblichenen Passat durch die Weinberge zurück ins Dorf. Es war 11 Uhr 15, seit einer Viertelstunde wartete ein junges Paar auf ihn. Er beschleunigte, schließlich war es sein erstes Traugespräch an neuer Wirkungsstätte. Tobias Schmutz war seit drei Wochen Pfarrer von Birgerberg, einem kleinen Weinflecken im Kaiserstuhl.
Es war seine letzte Chance und damit er wenigstens diese nutzen möge, hatte ihm der Oberkirchenrat in Karlsruhe diese halbe Stelle auf dem Land eingeräumt, wo ohnehin nichts mehr zu verderben war. Der vorletzte Pfarrer hatte seine Frau für einen Mulatten verlassen und war Buddhist geworden, die Nachfolgerin war an der Schweizer Grenze mit großen Mengen Marihuana geschnappt worden.
Die Winzergemeinschaft nahm Schmutz freundlich auf, wie es dem südbadischen Wesen entspricht, und erwies sich als lernfähig: Dass beim Neuen der in seinem Stand anscheinend unvermeidliche Wahnsinn schon längere Zeit loderte, ohne ihn bislang ganz verzehrt zu haben, nahm man als Verbesserung, und davon, dass das Dorf im Zuge der notwendigen Sparmaßnahmen nur noch als halbe Pfarre gewertet wurde, ließ man sich allenfalls im Stillen kränken. Nicht so Schmutz. Obwohl er vor dem entscheidenden Gespräch in Karlsruhe eigens einen Nervenarzt aufgesucht hatte, in der Hoffnung, dieser könne sein cholerisches Wesen wenigstens kurzfristig dämpfen, war es mit ihm durchgegangen:
»Erklären Sie mir eine halbe Beerdigung, meine Brüder!«, schrie er. »Bleibt der Sarg dann halb draußen? Lass ich ›Asche zu Asche‹ weg? Darf bei Trauungen nur einer erscheinen? Ein halber Pfarrer fällt ja wohl außerdem ständig um!«
Daraufhin hatte man ihm sein Sündenregister vorgelesen. So schlugen allein am altsprachlichen Gymnasium in Pforzheim, seiner letzten Wirkungsstätte, dreißig unentschuldigte Fehltage zu Buche, seine vorherigen, bereits legendären Eskapaden als Gemeindepfarrer in Bruchsal und dann als Religionslehrer in
Heidelberg ließ man angeekelt ruhen. Ganz fatal und nicht zu unterschlagen war aber ein kürzlich im Vollsuff begangener Blumendiebstahl auf dem Pforzheimer Wochenmarkt, der nur deshalb zu keiner Ermittlung führte, weil der Sohn des Dekans im Polizeisportverein Handball spielte. Der zuständige Kommissar war sein Trainer.
»Trinken Sie noch, Bruder Schmutz?«, fragte Oberkirchenrat Thon.
»Aber ja doch!« Der bedrängte Hirte wählte das offene Visier. »Das mit den Blumen geschah allerdings aus dem einen Grund, der uns zu Dienern der Kirche gemacht hat.«
»Was meinen Sie?«, fragte der Bischof interessiert.
»Ging es um Geld?«
»Haha!«
»Lachen Sie gefälligst nicht den Bischof aus, Sie unverschämter Mensch«, schaltete sich nun auch der Dritte des hohen Gerichts Vizebischof und Personalreferent Hans Theodor Sack ein.
»Es ging um Liebe«, sagte der Angeklagte, »um reine christliche Liebe. Ich wollte ein sterbendes Kind beschenken, ein sterbendes Waisenkind. Es hatte nur noch einen Wunsch: diese Blumen.«
»Das ist doch alles gelogen!«, schrie Thon. »Herr Landesbischof, Bruder Schmutz lügt einfach! Und wenn er nicht lügt, lügt er doch, denn er hätte die Blumen ja noch lange nicht stehlen müssen!«
»Wenn er nicht lügt, lügt er«, echote Sack müde und fingerte eine HB aus der Schachtel.
»Himmel, Schmutz, was soll das?« Der Bischof schaute verzweifelt drein.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Bruder Sack, nicht zu rauchen? Ich habe es kürzlich aufgegeben und ertrage den Geruch nicht mehr. Keine Sekunde länger!«
Tobias Schmutz konnte es sich nicht erklären, was ihn gerade in brenzligen Situationen dazu trieb, jegliches Tabu zu brechen. Er fühlte einfach in jeder Faser seines Leibes Spaß daran und bemerkte, dass es ihn mit zunehmendem Alter drängte, nur immer toller herumzutoben.
Es gelang ihm aber, sich im weiteren Verlauf des Gesprächs ein wenig zusammenzureißen, sozusagen vereinzelte Vernunftplacken herbeizuzwingen. Er gab zu, das Kind erfunden zu haben, ja, das sei geschmacklos gewesen und der Diebstahl eine Riesendummheit. Eine regressive Aktion. Jawohl, er gehe an den Kaiserstuhl, das Geld sollte schon reichen. Er verkniff sich sogar den Nachsatz: »Ich hab ja schließlich noch ein paar Weiber laufen.« Er verkniff sich nicht: »Der Kaiserstühler Wein ist gut, da heben wir mal einen, Bruder Thon.«
Warum behielt ihn die Kirche? Er hatte sich das oft gefragt.
Er entstammte keiner der alten Dynastien, wie es sie oftmals in diesem Beruf gab, Kollegen, die mitunter dieselbe Kirche in der vierten Generation leer predigten. Die Familie Schmutz, tatsächlich stellte sie sich hartnäckig mit langem ›u‹ vor, war bis auf ihn niemals akademisch gewesen. Frühere Generationen, im nichtssagenden Heilbronn ansässig, hatten wechselnde Handwerksberufe oder den Hausfrauendienst ausgeübt, Tobias’ Vater, der alte Wilhelm Schmutz, setzte verschiedene berufliche Laufbahnen infolge seines, wir wundern uns nicht, unbeherrschten Wesens in den Sand und verschrieb sich, uneinsichtig gegen die eigenen Fehler, daraufhin dem Kommunismus.
So war das Einzelkind Tobias, in zahllose Bitterlichkeiten mit dem Vater verstrickt, aus schierer Opposition in die kirchliche Welt gedrungen und dann auch noch gleich in die feindliche badische Landeskirche. Inzwischen waren seine Eltern tot, seine Ehe war nach diversen Rettungsversuchen gescheitert und außer einer Cousine, einer Lehrerin im Schwäbischen, die er hasste, war ihm nichts Familiäres geblieben. Aber gerade diese gewöhnliche und doch entwurzelte Herkunft war es, die die Kirchenoberen immer wieder milde stimmte.
»Der Schmutz ist zwar faul wie ein alter Hund«, so soll der Bischof sich im privaten Schoppenkreis geäußert haben, »aber blöd ist er nicht. Und wenn wir für solche Querdenker keinen Platz mehr haben, müssen wir uns über die vielen Leute, die aus der Kirche austreten, nicht wundern.«
Schmutz blieb und die Leute traten aus der Kirche aus.
Die ganze Geschichte Kinder & Wölfe sowei eine Novelle, einen Kurzroman und eine weitere Erzählungen lesen Sie in: Carlo Schäfer: Schmutz, Katz & Co. Das erzählerische Werk. CulturBooks, September 2016. Hardcover mit Lesebändchen. 304 Seiten. 20,00 Euro.
Das Buch
Dieser Erzählband versammelt Carlo Schäfers Prosatexte, allesamt Meisterwerke literarischer (Hoch-)Komik. Der subtil gewobene Miniaturenroman »Der Tod dreier Männer“, angesiedelt in zutiefst verbrecherischen Gegenden der menschlichen Seele; der brillante Kurz-Krimi »Kinder und Wölfe«; die fiese Erzählung »Kurpfalz is Himmel« – und die perfekt komponierte lange Novelle »Dr. Katz, der vermutlich schwärzeste Text der deutschen Literatur. Der allmähliche Zerfall des Schullehrers Katz, der auf die Gleichgültig der Welt mit womöglich noch größerer Indolenz reagiert ist verzweifelt, melancholisch, gnadenlos und konsequent bis zum bitteren Ende. Und dabei rasend komisch, das exakte Gegenstück von „lustig“.
Carlo Schäfer schreibt da weiter, wo Nikolai Gogol, Franz Kafka und Daniil Charms aufgehört haben: Über das Groteske und Irre der Welt – präzise, genau, wahnwitzig, komisch und hammerhart.
Warum es uns gefällt
So leise radikal, so konsequent verzweifelt-heiter-giftig, so kompromisslos subversiv ist unsere Welt in der deutschsprachigen Literatur seit ewigen Zeiten nicht mehr in eine ästhetisch brillante Form gebracht worden.
Der Autor
Carlo Schäfer wurde am 2. Januar 1964 geboren und ist am 8. September 2015 gestorben. Er veröffentlichte Krimis und literarische Texte bei Rowohlt, der Edition Nautilus und in diversen Anthologien. Für CulturMag/CrimeMag schrieb er seit 2009 die Kolumne »Carlos«, die in Auszügen als »Das Bimmel ist ein hochloder Diffel« bei CulturBooks erschienen ist. Außerdem war Carlo Schäfer Lehrer, Hochschuldozent, Kabarettist, Filmemacher, Stückeschreiber und Autor von Jugendbüchern.