Geschrieben am 23. Januar 2013 von für Bücher, Litmag

René Sydow: Der Reiher

rene Sydow_ Der ReiherAlter ist mehr als Kaffeefahrten

– Wenn die Erinnerung löchrig wird. Der Schauspieler und Regisseur René Sydow veröffentlicht sein Prosadebüt „Der Reiher“. Von Senta Wagner

Fast ein halbes Jahrhundert – so lange ist es her, dass Richard seine Heimat verlassen hat. Nicht nur seine Heimat, auch seine Frau und seine kleine Tochter. Abgehauen ist er! Das waren auf einen Schlag Schlussstrich und Neuanfang, der Richard und seine Neue mit wenigen Habseligkeiten, aber viel Liebe im Gepäck vom Bodensee nach Dortmund führte. Richard ist 74 Jahre alt und der Icherzähler des novellenartigen Debütromans „Der Reiher“ von René Sydow, der sich als literarische Heimkehr ausgibt. In ihm geht es um das Erinnern und die Löcher darin, in denen etwa Namen und Daten von Geburtstagen verschwinden. Auf einer tieferen Seelenebene sind Vergessenes und Verdrängtes nicht mehr genau auseinanderzuhalten. Ganz über den Weg trauen kann man dem alten Erzähler also wohl nicht.

Richard ist ein bescheidener Fernsehsesseltyp mit einer nicht „erzählenswerten Biografie“: „Ich brauchte ohnehin nie viel, um zufrieden zu sein. Marina. Sie genügte. Nach ihrem Tod reichten Tierfilme.“ Kaffeefahrten werden als schicksalhaft angenommen. Kein Seufzen, kein Jammern. „Was früher wehtat, wurde nach Jahren angenehm dumpf.“ Wo rüstige Senioren es noch einmal ordentlich krachen lassen, verdöst Richard lieber seine Zeit.

Regen und Erinnerung

Und doch bricht die Außenwelt herein bei Richard, trommelt gleichsam gegen die Scheibe wie der Regen mit seinen „kleinen Händen“ (E. E. Cummings), als Richard die Nachricht vom Tod seines Jugendfreunds Heinz erhält. Auch wenn die beiden ab und zu miteinander telefonierten, die Erschütterung bleibt aus, der Empfang von Todesanzeigen ist zur Gewohnheit geworden. Kein Zweifel, irgendwas Mieses verbindet die beiden. Dann übernimmt der Regen: Wo nicht setzte er und sein Geruch Erinnerungen in Gang? Die Heimat, die Kindheit und Jugend, Marina, die erwachsene Tochter, die Ex – sie alle dringen alsbald in Richards Bewusstsein. Wahrscheinlich geht es um das Fließende. Auch René Sydow weiß diese Gesetzmäßigkeit in Erzählung zu verwandeln und passende sinnliche Beschreibungen zu wählen. Seine besonnene Prosa, in die auch Traumsequenzen Eingang finden, strömt mit einer klaren, einfachen Sprache dahin. Strukturell lehnt sie sich ans Drama an und gliedert sich in die Teile I–IV. Trotz der formalen Bändigung schlingern die Erinnerungen mit teilweise abrupten, absatzlosen Übergängen durch alle vier Kapitel und ergeben zwar kein überwältigendes, aber ein stimmiges Gesamtbild. Schade um die inhaltlichen Ungereimtheiten, die sich besonders im letzten Teil häufen.

Richard und Heinz sind im selben Bodenseedorf aufgewachsen, auf der Höri. Dorthin kehrt Richard nun zurück, um an ein und demselben Tag nicht nur an der Beerdigung teilzunehmen, sondern auch den 46. Geburtstag seiner Tochter zu feiern, die ebenfalls dort lebt. „Ich erkannte alles wieder und fand mich umgehend zurecht, aber ich blieb, wer ich war … Ich war einfach nur zurück.“ Zum Klischee eines Heimatdorfs gehört es, dass es die Zeit festhält, sich nicht verändert. Sydow, der ebenfalls aus der Gegend stammt, greift den Gegensatz Stadt/Dorf in gängigen Beschreibungen auf, spart nicht mit Lokalkolorit und dem Einsatz des alemannischen Dialekts. Das Debüt kommt damit betulich-regional daher, als Heimatliteratur wiederum ist es en vogue. Natürlich wurden auch Hühner im Beisein von Kindern geköpft – ein abgegriffenes Topos der Kindheitserinnerung in der Literatur. Am Rande gab es auch ein bisschen Krieg.

Einfühlsame, knappe Dialoge

Teil II dreht sich um das Mädchen Manu, in Schulzeiten begehrt von Richard und Heinz. Darüber hinaus treffen in dem Teil Alt und Jung aufeinander, Opa und Enkelin: Richard lernt die 17-jährige Nadja kennen, die ungefähr im gleichen Alter ist wie Manu damals. Nadja ist zugleich Spiegel- wie Projektionsfläche für den Icherzähler. Richards Widmung seiner schriftlichen Lebensbeichte an Nadja ist als Symbol der Wiedergutmachung zu verstehen. Vielleicht klebt Richard schon bald nicht mehr im Fernsehsessel. Die Schilderung ihrer beider Begegnungen anhand einfühlsamer, knapper Dialoge gehört mit zu den trefflichsten des Romans. Zu dem gewichtigen Motiv Schuld fallen Sydow allenfalls ein paar lockere Gedanken ein.

Auf einer Erkundigungstour bedrängen Richard die „Details aus der Vergangenheit“, Frauengeschichten sitzen ihm als „Geruch in der Nase“. Wie magisch zieht es ihn auf den alten Wegen hin zu dem Ort, wo das Unglück mit Manu geschah. Heinz wusste stets um ihr ungesühntes Verbrechen, Richard hatte die Sache schlicht vergessen: „Nur was mich selbst verletzte, habe ich behalten.“ Pech, nicht alles ruht bis in alle Ewigkeit im Verborgenen.

Senta Wagner

René Sydow: Der Reiher. Wien: Kyrene.Literaturverlag 2012. 177 Seiten. Zum Verlagsporträt.

Tags :