Tod & Glück
Den vierten Roman der Josef-Bloch-Reihe von Hans Zengeler hat Anne Kuhlmeyer begeistert gelesen:
Ab 50 bist du fast tot, ab 60 ganz tot, ab 70 bist du mausetot – je nach geburtsdatumsbedingter Perspektive. Und wenn nicht tot, dann weg, unsichtbar, weil grau, faltig und krank, inkompetent sowieso, niedlich geradezu. Ist nicht das Alter der Schrecken derer, die Jugendlichkeit als Existenzbeweis vor sich her tragen müssen?
Josef Bloch hat sich mutig hineingetraut ins Senium, mit seiner Ira, der Nicht-Ehefrau seit einem Vierteljahrhundert. Doch im vierten Band der Romanreihe zeigt sich das Alter zunächst in seinen finstersten Farben. Bloch trauert. Er trauert nicht einfach milde vor sich hin, sondern er ist außer sich, verzweifelt, halt- und orientierungslos nach dem Tod seiner Geliebten. Kein Tag, an dem es hell werden würde, keine Gegenwart, eine Zukunft schon gar nicht. Sein Kopf ist voll von Iras Bildern – wie sie geht, wie sie lacht, wie sie nach Luft ringt. Die Erinnerungen an ihr Sterben, Hindämmern in der Klinik, durchwachte Nächte, Bloch am Noch-Leben lauschend, wechseln mit dem öden Jetzt, in dem er sich nicht mehr findet.
Die Szenen vom Sterben und die vom Danach verflicht der Autor zu kunstvoll-chaotischem Gewirk. Nicht nur Abschied und Verlust, sein Selbst empfindet Bloch als ausgelöscht, falls die Leere als Empfindung gilt. So schmerzlich das Erinnern ist, Iras Rücken im roten Mäntelchen in der Ferne auf dem ehedem gemeinsamen Spazierweg ist Boje im Trauermeer. Die Szenen pendeln zwischen „Geschehenem und einer immer schwerer begreifbaren Gegenwart“. Wie alles wird auch Blochs Schreiben banal, gemessen am Letzten. So bedeutsamen Auftragsarbeiten wie die Untersuchung der Fragen: „Hat die Größe der Dichternase maßgeblichen Einfluss auf die Größe des Werks oder: Wächst die Nase mit dem Werk oder ist es eher umgekehrt?“ kann Bloch kein Interesse mehr entgegen bringen, hat doch sein Ziel, den ultimativen Millionenseller zu schreiben, um die Geliebte aus finanzieller Not zu retten, sein Subjekt verloren. Aber bei aller Trauer Blochs – Zengeler darf sich sehr wohl über den Literaturbetrieb, dem offenbar die Inhalte abhanden gekommen sind („keine Riechintelligenz, keine Erotik der Thrombosestrümpfe und was sich da thematisch noch hätte ergeben können“), lustig machen. Und er tut es auch.
Bloch wäre nicht Bloch, würde er sich mit einer einzigen Katastrophe zufrieden geben. Er muss sich auf „Grundsicherung“ einstellen und eine neue Bleibe suchen. Doch wie lässt sich die finden von einem alten Mann in Armut? Kurz nach Iras Tod erwischt ihn auch noch der Krebs. Und so ein Krebs will organisiert sein. Blochs Prostata gerät samt ihrem Träger in die Medizinmühle – ausufernde Diagnostik, Warten, Respektlosigkeit. Eine junge Frau, die er im Netz kennengelernt hat, hört seiner Trauer zu, seiner Furcht, begleitet ihn zum Urologen. Stanzbiopsien sind gewiss nicht lustig, bei Zengeler aber schon. Originell ironisiert er Scham und Schmerz.
Nach dem Diagnostikmarathon ist längst kein Ende der „bleiernen Zeit“, wie Bloch sie nennt, in Sicht. Mit der „bleiernen Zeit“ assoziiert man eigentlich deutsche Nachkriegsapathie angesichts durchlebten Grauens. Bloch ist dabei, seine persönlichen Empfindungstäler, die womöglich in diese Zeit zurückreichen, denn er ist ein Kriegskind, zu durchschreiten. Marlene (sie könnte seine Enkelin sein) hilft ihm dabei, schleppt Zuwendung, Essen und Heiterkeit in sein demoliertes Leben. Und irgendwann … kommt die Liebe zu ihm (er neigt schließlich zu verrückten Lieben). Und zu ihr. Und mit der Liebe drängt sich eine Zukunft ins Jetzt. Wer hätte das gedacht?
„Noch ein wenig Zeit“ ist wie alle Romane der Bloch-Reihe ein sinnliches, komisches, lebensbejahendes Werk in einer stringenten, erdverbundenen und dennoch glitzernden Sprache erzählt, ein wenig Pathos eingeschlossen, das sich aber in der Grandiosität der Bloch-Figur rechtfertigt. Schonungslos rechnet der Autor mit dem Kulturbetrieb, der Medizinmaschinerie und dem Jugendlichkeitsdiktat ab – kein Buch, vor dem sich junge Menschen fürchten müssten. Man kann es getrost bis ins neunte Lebensjahrzehnt hinein lesen.
Anne Kuhlmeyer
Hans Zengeler, Noch ein wenig Zeit, Roman, Dahlemer Verlagsanstalt Berlin, 2016, 211 Seiten, 19,- Euro
Josef-Bloch-Romane: „Gestorben wird später“, auf Culturmag rezensiert: „Die größte Liebe aller Zeiten„,“Das letzte Geheimnis„. „Noch ein wenig Zeit“