Die Herrschaft der Null
Der große alte Mann der europäischen Kultur, Umberto Eco, rechnet mit dem Werteverfall unseres (Medien-)Systems ab – wie immer mit viel Witz, Charme und Weisheit, und vor allem mit ebenso leichtfüßiger wie wohl gesetzter Prosa. Von Andreas Pittler
Ein Schmalspurjournalist, der sich mit Ghost-Writing, Übersetzungen und gelegentlichen Artikelchen über Wasser halten musste, sieht plötzlich die Chance seines Lebens gekommen. Ein geheimnisvoller Milliardär (ein Schelm, der dahinter nicht einen gewissen Silvio B. erkennt) plant die Herausgabe einer Zeitung namens „Domani“ (Morgen). Mit einer Handvoll weiterer Zeilenschinder, allesamt mehr oder weniger ähnlich gescheitert wie der Erzähler, geht der designierte Chefredakteur daran, eine Nullnummer zu produzieren. Bald aber kommen Colonna, dem Erzähler, erste Zweifel, ob die Zeitung überhaupt jemals auf den Markt kommen soll. Er und seine Kollegen werden nämlich primär dazu angehalten, schmutzige Details auszugraben, mit denen man auf die Stützen der Gesellschaft Druck ausüben kann. Und in Colonna reift der Verdacht, der Commendatore will sich mit seinem solcherart erworbenen Wissen nur Zugang in die herrschende Klasse verschaffen.
Ein Gedanke, der so unlogisch nicht ist. Denn wir schreiben das Jahr 1992, mithin also den Vorabend des Untergangs von Nachkriegs-Italien. Die einstmals alles beherrschende Democrazia Cristiana zerbröselt in ähnlich rapider Geschwindigkeit wie drei Jahre zuvor die Kommunistischen Parteien des Ostblocks, ihr Konterpart, der PCI, ist bereits Vergangenheit, und die politische Kaste versinkt unrettbar in einem Sumpf aus Korruption, Misswirtschaft und politischer Ranküne. Die perfekte Zeit für einen politischen Glücksritter, sich, einem mittelalterlichen Condottiere gleich, an die Spitzen des Regimes zu hieven und die Macht, die den alten Eliten so rasant entgleitet, entschlossen an sich zu reißen.
Während aber Colonna seine Zweifel für sich behält, weiht ihn einer seiner Kollegen freimütig in dessen Recherchen ein. Die scheinen ebenso abenteuerlich wie hanebüchen zu sein. Demnach sei Italien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf rigide Weise von der CIA gelenkt und gesteuert worden, und die Kontrolle der Amerikaner sei so weit gegangen, dass sie sogar die rechten und linken Feinde der italienischen Demokratie stets unter ihren Fittichen hatten. Egal, ob die Neonazi-Anschläge auf Züge, Bahnhöfe und Volksfeste oder die Entführungen von Rechtspolitikern und Wirtschaftsmagnaten durch Linksextremisten, stets hatten irgendwie die Amis ihre Hände mit im Spiel.
Doch die Enthüllungen des Kollegen gehen noch weiter. Auch der Vatikan fischt im Trüben und beteiligt sich mit seiner eigenen Bank an zwielichtigen Geschäften. Dazu kommen Geheimlogen, Parallelregierungen und die alles infiltrierende kriminelle Energie der Mafia. Italien erweist sich als pure Bananenrepublik, in der die führenden Politiker nichts als Marionetten sind, die geistlose Phrasen vor sich her plappern, um davon abzulenken, wer den Staat in Wahrheit führt.
Durchaus brisant eine andere Hypothese von Colonnas Kollegen. Demnach sei 1945 gar nicht der wirkliche Mussolini vom Volksgericht liquidiert worden, sondern bloß ein – gar nicht so perfekter – Doppelgänger. Mussolini selbst sei mit Hilfe des Vatikan nach Argentinien entkommen, wo er darauf gewartet habe, in Italien wieder an die Macht zu gelangen. 1970 gab es tatsächlich einen faschistischen Putschversuch, der ohne ersichtlichen Grund nach wenigen Stunden von den Putschisten selbst aufgegeben wurde. Weil, so Colonnas Kollege, just in diesem Augenblick der echte Mussolini für immer die Augen schloss, sodass dem Putsch des Ziel abhandengekommen war.
Colonna hält den Redakteur für einen Spinner. Doch als der wenig später tot aufgefunden wird, kommt Colonna der schreckliche Verdacht, der Mann könnte wirklich die Wahrheit aufgedeckt haben. Dies umso mehr, als „Domani“ Knall auf Fall beendet wird. Colonna fürchtet konsequenter Weise um sein eigenes Leben und denkt nur noch an Flucht.
Die Wahrheit bis zur Kenntlichkeit entstellt
Eco wäre nicht Eco, wenn er nicht auch eine Thematik von solch dramatischer Tragweite leichtfüßig und unterhaltsam in eine flott geschriebene Erzählung zu gießen vermöchte. Nahezu genial seine satirischen Seitenhiebe auf eine Zunft, der längst schon jede Empfindung von journalistischer Sorgfaltspflicht, von Ethik und Verantwortung nahezu restlos verlorengegangen ist. Geistlos schreibt man voneinander ab, erspart sich jegliche eigene Recherche und nimmt „Kollateralschäden“ nachgerade billigend in Kauf. Wenn der Kerl, den man marktschreierisch auf der Titelseite als Verbrecher vorführt, am Ende doch unschuldig war, wen interessiert´s? Und dass der dann vor lauter Scham Selbstmord begeht? Schnee von gestern! Und alter Postmodernist, der Eco ist, machte es ihm sicher tierischen Spaß, seine Kritik auch noch mit intellektuellen Spitzen zu versehen, wenn etwa ein Journalist, der vorsätzlich lügt und die Fakten verbiegt, um einen reißerischen Artikel konstruieren zu können, ausgerechnet Aleteo Verita (altgriechisch und italienisch jeweils „Wahrheit“) heißt.
Und Eco zeigt auch auf, wie eindimensional die Berichterstattung der vorgeblich vierten Macht geworden ist. Prescht ein Medium mit einem Thema vor, orgeln das auch alle anderen bis zum Abwinken, solange, bis ein neues Thema vor den Vorhang gebeten wird. Dann erstirbt von einem Augenblick auf den nächsten jedwede Reportage über das „alte“ Thema, so, als ob es plötzlich überhaupt nicht mehr existierte. Diese Analyse scheint gerade dieser Tage doppelt aktuell, etwa, wenn man sich die Nachrichtensendungen des Österreichischen Rundfunks (ORF) ansieht, der monatelang nur das Thema Griechenland kannte, ehe seit einigen Wochen nur noch das Thema Flüchtlinge für ihn existiert.
Schmackes hat natürlich auch die „Verschwörungstheorie“ des später ermordeten Journalisten, denn sie entspricht, wie wir mittlerweile wissen, nahezu eins zu eins der Wahrheit. Gladio, die Loge P2, die Vatikanbank, alle diese Skandale gab es wirklich, und die Verstrickung der Amerikaner in die diversen politischen Manöver wurde zwischenzeitlich sogar vom CIA-Direktor selbst zugegeben. Und liest man die Sammlung all dieser Komplotte, dann ertappt man sich bei der Frage, ob nicht auch der – wahrscheinlich – einzige erfundene Teil, jener mit Mussolini und seinem Doppelgänger, stimmen könnte.
Über den Autor, Wissenschaftler und Journalisten Eco braucht man an dieser Stelle kein eigenes Wort mehr zu verlieren. Aber es ist nachvollziehbar, dass gerade ein Polygnot wie er besonders unter der Verblödung eines Teils der Gesellschaft leidet. Nicht umsonst nahm er sich dieses Themas schon recht früh an, man erinnere sich an „Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß“. Und jemand wie Eco wird sich in diesem allgemeinen Verfall vielleicht an Bert Brechts Maxime erinnern, wonach einem Dichter in finst´ren Zeiten nichts anderes bleibt, als Dichter in finst´ren Zeiten zu sein.
Und so hat der alte Mann auf den Olymp seines Schaffens einen weiteren Stein hinaufgerollt, der sich dort einreiht in die mittlerweile große Zahl an wichtigen Romanen, von „Der Name der Rose“ bis zu „Der Friedhof in Prag“. Er wird auch mit seinem neuen Roman dem Horazschen Diktum von „prodesse et delectare“ gerecht, wobei man in diesem Buch in all der Bitternis, die man ob der Wirklichkeit, die es beschreibt, empfinden muss, auch ein gerüttelt Quantum Trost finden kann. Und sei es nur dieser, ohnehin schon immer gewusst zu haben, dass etwas faul im Staate Däne… äh, Italien, ist.
Andreas Pittler
Umberto Eco: Nullnummer. Übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser, München 2015. 231 Seiten. 21,90 Euro.