Was dem Zeitgeist-Regisseur gerade so durch die Rübe rauscht
– Über Gerhard Stadelmaiers Kritik am „Augenblicks“-und „Bearbeiteritis“-Theater profilneurotischer Regisseure in seinem Band „Regisseurstheater“. Von Peter Münder.
Alle Jahre wieder kriselt es am Theater: Der langweilige (oder überdrehte/ exotische/ gesellschaftskritische) Spielplan wird beklagt; die üppigen öffentlichen Subventionstöpfe werden eingedampft, mehrere Bühnen zu einer einzigen Generalintendanz zusammengeschrumpft, der miserable Standard der Kritik wird bejammert und schrille Inszenierungen, in denen die Klassiker kaum noch erkennbar sind, werden ausgebuht und von der Kritik niedergemacht. Ist nun auch noch der Trend zum spektakulären Trash angesagt? Offenbar finden ja immer mehr Regisseure Gefallen daran, die Klassiker so gegen den Strich zu bürsten, dass sie maximal veralbert und verhunzt werden. Die „Zauberflöte“ (Hamburg) spielte in einem Abwassertrakt, in dem das Rauschen der Klospülung fast jede Arie untermalte; eine gigantische, statisch arrangierte Budenzauber-Video-Installation „Medea. Matrix“ bei der Ruhrtriennale (Gebläsehalle Duisburg-Nord) implantierte Medea in einem verwirrenden Medien-Szenario, während eine Berliner Inszenierung die „Entführung aus dem Serail“, mit Peepshow-artigen Video- Szenen aus dem Sexclub einer lesbischen Drogendealerin ausschmückte und Spastiker-Dialoge vom Feinsten aufbot („Storm in my pussy, love in my anus“).
Wenn Themen, Figuren und die Sprache nur noch verhöhnt oder pervertiert werden, warum werden diese Stücke dann aber überhaupt noch inszeniert und aufgeführt? Diese Frage stellt sich der ehemalige FAZ-Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier, der im letzten Jahr in den Ruhestand ging, schon seit vielen Jahren. Er wurde soeben mit dem Deutschen Sprachpreis 2016 „für beispielhafte sprachliche Gestaltung seiner journalistischen Texte“ von der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache ausgezeichnet. Wer die Theaterszene schon länger beobachtet, wird aber auch fragen: „What´s new, pussycat“? Ist die Diskussion über die Theaterkrise und die Zeitgeist-Manie der Regisseure nicht so vertraut wie das Herumdümpeln des HSV in den gefährlichen Untiefen der Bundesliga-Relegationszone? Und hatte sich ZEIT-Kritiker Benjamin Henrichs in seinem Band („Beruf: Kritiker. Rezensionen, Polemiken, Liebeserklärungen“, Hanser 1978) nicht schon ausführlich ausgelassen über „Konzeptionswut und Stilisierungskrampf bei jungen deutschen Regisseuren“? Henrichs hatte den „Zwang zur Pointe“ bei den Inszenierungen von Peymann, Heyme , Flimm, Neuenfels u.a. als selbstauferlegten, extrem anstrengenden Hochleistungssport interpretiert – denn „mit einer einzigen Rezension“, schrieb er, könnte der junge Regisseur zum gemachten Mann werden, weil die „panische Suche nach jungen Regietalenten“ groteske Züge angenommen habe und die Theaterkritik bei diesem überzogenen Spiel mit übereifrig errichteten Denkmälern leichtfertig mitspielte. Die Kritik giere jedenfalls nach der Provokation: Der „neue Tschechow“ müsse es sein, der „ganz neue Sommernachtstraum“ usw. Henrichs´ Fazit lautete daher: „Kein Wunder, wenn dann Regisseure Nerven und Augen verlieren. Sie, die Mächtigen des Theaters, werden neurotisch – weil sie dauernd unter dem Zwang stehen, ihre Macht zu beweisen, ihre Macht zu behaupten“. Es geht eben auch um den Regisseur als Selbstvermarkter, der sich mit aufsehenerregenden Einfällen inszeniert. Und vielleicht geht es ja auch darum, dass manche Theater-Regisseure meinen, sich beim jungen, von Dschungel-Camp „verwöhnten“ Publikum mit ebenso schrillen Typen und Effekten anbiedern zu müssen.
Aber richten wir noch mit Stadelmaier einen Blick zurück auf den Clown: Peter Zadeks Wiener Festwochen-Inszenierung von „Richard III.“ mit dem genialen Exzentriker Paulus Manker in der Hauptrolle bezeichnete Stadelmaier bereits 1997 als „Sesamstraßentheater“; den in aufgeblähten Pluderhosen herumkaspernden Richard hielt er für eine Krümelmonster-Mutation. „Er schnappt nach Shakespeares Wörtern und Rhythmen, als seien es Fliegen, die man rasch verschlucken müsse. Der Mann ist unverständlich“. Kostüme, Bühnenbild, die gesamte Szenerie war laut Stadelmaier auf Erheiterungs-Klamauk angelegt: „Soldaten in Strumpfhosen und Wämsern und samtenen Flachkopftochhüten, die Kostüme in schreienden Farben, wie von alten Zigarettenbildchen entlehnt“, schrieb der FAZ-Kritiker damals: „Nicht einmal eine Shakespeare-Fälschung. Es ist nur eine Leblosmachung: Shakespeare-Verpuppung. Eine Art interesselose Mumifizierung“.
Stadelmaier ist dezidierter Gegner von Inszenierungen, die auf Krawall oder Skandal-Effekte angelegt sind, um die Profilneurosen ideenloser Regisseure zu kompensieren. Vor zehn Jahren erlebte er eine Frankfurter Ionesco-Inszenierung („Massakerspiel“ am Schauspiel Frankfurt) von Sebastian Hartmann, in der einer Hochschwangeren das Fruchtwasser mit einem Taschenmesser abgezapft und zu Cocktails verarbeitet wurde, während eine andere Frau zwei Männer masturbierte. Als der Kritiker vom Schauspieler Thomas Lawinky ein toter Schwan auf dem Schoß platziert und er zum Mitmachen aufgefordert wurde, lehnte der FAZ-Mann das Angebot ab. Lawinky riss dem Kritiker daraufhin den Spiralblock aus der Hand, verhöhnte ihn, es kam es zu Handgreiflichkeiten. Stadelmaier verließ die Aufführung unter Protest und der Schauspieler schrie ihm nach: „Hau ab, du Arsch! Verpiss dich!“ Dieser sogenannte „Frankfurter Theaterskandal“ endete dann nach Intervention der FAZ-Chefredaktion (Anruf bei der Bürgermeisterin, Reaktion der Intendantin Schweeger) mit der Entlassung des Schauspielers. Lange Debatten über den Eklat kreisten dann um die Frage, ob dies ein individueller Ausraster eines Schauspielers war oder die „strukturelle Logik“ des Frankfurter Mitmach- und „Lebensgefühlstheaters“ (Stadelmaier) zu diesem provozierenden Angriff auf die Pressefreiheit führte. In seinem Buch geht Stadelmaier nicht detailliert auf diesen Skandal-Zwischenfall ein. Die aberwitzige Szene, in der andere Schauspieler noch in Flaschen urinieren und sich mit Fäkalienbrei einschmieren wollten, erwähnt er lediglich als symptomatischen Exzess des Zeitgeist-Theaters: Diese ekelhaften, Geschmacklosigkeiten rauschen so einem Zeitgeist-Regisseur also durch die Rübe! Sein Buch liefert einen Rundumschlag gegen diesen Mitmach- und Zeitgeist-Aktionismus, dessen Zuschauer vor Betreten des Theaters eigentlich noch vor Risiken und Nebenwirkungen gewarnt werden müssten.
Die Beschäftigung mit Zeitgeist-Exzessen steht in „Regisseurstheater“ zwar im Mittelpunkt, doch eingebettet sind diese Überlegungen in Rückblicke und Exkurse, die sich auf die Anfänge des modernen Theaters beziehen. Für den Lessing-Spezialisten Stadelmaier, der über Lessing promovierte und seine Erkenntnisse 1980 in der Studie „Lessing auf der Bühne. Ein Klassiker im Theater-Alltag“ (Niemeyer, Tübingen) veröffentlichte, steht Lessing als Dramatiker, Theater-Vordenker (Hamburgische Dramaturgie) Hüter und Wegweiser ethisch-moralischer Normen wie ein Mahnmal vor uns: Hatte der Verfasser von „Miss Sara Sampson“ mit seinem bürgerlichen Trauerspiel nicht gehofft, mit singulären Rührungseffekten beim Publikum (Stadelmaier: „Die bürgerliche Theaterwelt hatte sich in Rage geweint“) Mitleid zu erwecken und tugendhafte Fertigkeiten zu fördern? Doch lieferte Lessing dann im „Nathan“ nicht auch einen sehr aktuell anmutenden Lackmustest, der grenzenlose Schwärmerei als realitätsfremd entlarvte? Ist es letztlich nicht verheerend, fragt Stadelmaier, wenn Rührungseffekte der Politik ins Handwerk pfuschen? War die Kanzlerin daher nicht, wie Stadelmaier erklärt, der „Hingabe an einen Stimmungsüberfall“ erlegen, als sie im Herbst 2015 die Millionen Flüchtlinge aller Länder ins Land einlud? Lessing ist für den Kritiker die moralische Messlatte: „Nathan hat bewusst etwas vorgedacht, die Kanzlerin hat bewusstlos etwas vorgemacht“.
Lessing ist für Stadelmaier auch attraktiv als Antipode alles Diffusen: Seine drei Hauptstücke („Minna von Barnhelm“, „Emilia Galotti“, „Nathan der Weise“) vermitteln entweder klar umrissene preußische Tugenden oder propagieren wie im „Nathan“, die Idee religiöser Toleranz. Seine im Lessing-Buch vorgenommene Auswertung von 129 Lessing-Inszenierungen zwischen 1968-1974 an Theatern der BRD, DDR, Schweiz und Österreich kommt zu dem Fazit, dass es unter all diesen Aufführungen nur eine einzige gab – nämlich die legendäre „Emilia Galotti“ von Kortner, die sich durch eine Umdeutung von den sonst üblichen Interpretationen abhob. Diese von Stadelmaier offenbar weitgehend internalisierte moralische Konstante wird vom postmodernen Zeitgeist- und Mitmach-Regisseurstheater stark konterkariert – was dann beim Kritiker zu entsprechenden Aversionen führt. Jedenfalls ist unübersehbar, dass Stadelmaier sich im Furor angesichts zunehmender „Bearbeiteritis“-und Zeitgeist-Exzesse in apodiktisch abgesonderten Redundanz-Schleifen verheddert. Der sonst so geniale Sprachartist ist dann mit aversiv aufgeladenen Floskeln auf die „Dealer des Augenblicks“ so intensiv fixiert, dass ihm das konzise Argumentieren ebenso schwer fällt wie die Erörterung konkreter Inszenierungsbeispiele. Vieles wird zum dumpfen Symptom einer dekadenten, wirren Phänomenologie, für die ein namenloser „barbarischer“ Regisseur als Zeitgeist- Repräsentant verantwortlich gemacht wird: „Er lässt den Wirt in „Minna von Barnhelm“ intensiven Geschlechtskontakt mit der Zofe Franziska aufnehmen, bevor er mit dem Fräulein von Barnhelm ein halbes Pfund Koks schnupft. Auch ein Nathan, der frisch aus dem KZ kommt oder erst in eines hineingeht, bewacht von SS-Tempelsturmbannherren, gehört zu dem, was dem Regisseur so durch die Zeitgeist-Rübe rauscht“.
Die gravierenden Kollateralschäden im Feuilleton, die auch die Theaterkritik tangieren, beklagt Stadelmaier in einem Kapitel sehr zu recht – denn die Tendenz, Kritiker für PR-Vorberichte und Event-Tralala zu instrumentalisieren, wird in einigen Medien (nicht nur bei Provinzblättern!) schon lange praktiziert und führt zu enormen Irritationen und Konflikten.
Seine langatmige Kritik an „schillernden Pestbeulen des Schaugewerbes“, von denen das Gießener „Institut für Angewandte Theaterwissenschaft“ offenbar die prominenteste Brutstätte ist, führt schnell zur Negativ-Typisierung aller Spielarten, die aus dem klassischen Theater-Raster herausfallen: „In dieser alles entgrenzenden Szenenverkopfungsfabrik, in der Drama und Schauspieler nichts mehr gelten, wird jede Straßenecke zur Bühne, jedes Reihenhaus-Zimmer zum Performance-Raum, jede Alltäglichkeit zum Fetisch“.
Kurzes Fazit der langen Klage: Meistens kann man Stadelmaiers ätzende Kritik an Zeitgeist abhängigen Regie-Exzessen absolut nachvollziehen – leider überzieht er aber diese Invektiven-Arie und unterschätzt dabei den Leser, der schon bei der dritten Wiederholung der redundanten Suada geschnallt hat, worum es geht. Die „Dealer des Augenblicks“ wird es auch trotz der massiven Einwände des Kritikers in Zukunft zu Hauf geben; auch ihre Konzeptionswut dürfte sich nicht so schnell abgekühlt haben. Das „Rauschen in der Rübe“ dieser wilden Zeitgeist-Regisseure wird wohl eher noch wirrer, chaotischer und verstörender werden, denn das Flimmern und Rauschen in den Massenmedien färbt natürlich auch auf sie ab. Und die meisten sehen sich als Event-Inszenierer tatsächlich in Konkurrenz zu TV-Serien, dem Film und Kabarett.
Peter Münder
Gerhard Stadelmaier: Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeistes. Zu Klampen Essay 2016. Zu Klampen Verlag, Springe, 2016. 133 Seiten. 16,00 Euro