Ein Lesungsversprechen
–Rauchen, trinken, lesen: Bericht von der abenteuerlichen Lesung eines abenteuerlichen Romans. Von Senta Wagner.
Ein Mund mit Zahnlücken grinst mich schief an, zwischen den Lippen hängt glaube ich ein Zigarillo, leichter Alkoholgeruch in der Luft. Der Mann mit dem Käppi auf den grauen lang-fransigen Haaren ist Stephan Alfare. Er lässt mir den Vortritt, ich betrete den Lesungsraum, aber nicht ich lese, er liest. Der 46-jährige Vorarlberger präsentiert seinen Ende März 2011 im Luftschacht Verlag erschienenen dritten Roman „Der dritte Bettenturm“. Gastgeber der Veranstaltung ist die Österreichische Gesellschaft für Literatur, die im noblen, ziemlich alten Palais Wilzcek (= im geografischen Dunstkreis der Wiener Hofburg gelegen) ihren Sitz hat. Man sieht sofort: schwere Vorhänge, Qualitätsmobiliar, Historismus. In dem Palais wohnten einst Franz Grillparzer und Joseph von Eichendorff. Leise gemahnt jemand ans Rauchverbot, da sitzt Alfare bereits am Lesepult und fragt das Publikum nach Feuer. Die Wasserkaraffe tauscht er gegen eine Büchse Bier aus. Ups, ein Leseexemplar hat er nicht dabei, auch das kriegt er vom Publikum. Das ist keine Performance, das könnte eine Zeremonie sein. Die etwa dreißig Zuhörer, gepflegte Mittvierziger, manche jünger, manche älter, sind entspannt, glucksen, mit dem Stephan Alfare ist das wohl so: echt und unverstellt. Houellebecq trinkt und raucht auch bei seinen Lesungen, aber das ist irgendwie anders, mehr französische Attitüde.
Alfare liest Kapitel eins und drei aus seinem 390-seitigen Roman, wegen mir hätte er alles lesen können, dabei fackelt er weder das Palais ab noch verspricht er sich ein einziges Mal. Kürzere Absätze trägt er frei vor, seine Stimme klingt rau, etwas belegt, zwischendurch ballt er eine Faust, blickt wild ins Publikum, ist ganz drin in seinem Text. Victor Flenner, Protagonist des Romans und versackt im Säufer- und Süchtigenmilieu, torkelt sturzbetrunken im Morgengrauen nach Hause, ein „schneidendes Sirren“ im Kopf. Die Szenerie ist unheimlich: In der „tristen, seelenlosen Vorstadt“ sind die Sterne „zornig“, die Wolken „schmutzige Laken“, es „redete der Wind zwischen den Häuserzeilen“, und Flenner hatte „alle Nachtteufel auf den Fersen“. Immer wieder Taubengurren, Krähen, Wind und Regen. Die überaus präzisen, atmosphärisch dichten Beschreibungen des frühmorgendlichen Naturschauspiels verleihen der folgenden Zäsur so richtig ihre Wucht, diese reißt Flenner aus seinem jämmerlichen Zustand und bringt ihn in einen anderen, kaum besseren.
Es folgen zwei verzweifelte Aktionen gegen die eigene Person, die Lebensangst: Flenner schlägt nicht nur mit der Faust die Milchglasscheibe der Haustür ein, sondern stürzt sich auch unmittelbar darauf, auf seinem Stockwerk angekommen, den Treppenabsatz hinab. Überall Blut, im Haus Musik und Gesang, ordinäres Leben. Das zerbrochene Glas der Tür – zum einen „geschärfte Splitter“, zum anderen „Nachtschmetterlinge mit durchscheinenden Flügeln“. Es paart sich hier der Gegensatz zwischen schaurig und schön zu einem wichtigen Element dieser direkten, wilden Prosa. Flenner wird knapp vor dem Tod gerettet und kommt im Krankenhaus zu Bewusstsein, im dritten Bettenturm. Dort beginnt, laut Klappentext, die Rekonstruktion der vergangenen Wochen, während das elende Leben draußen, so wie es ist, weiterläuft für seine Schwester Leira, seinen Malerfreund Jean und wenige andere. Hier hängen alle am Leben, nur eben auf prekäre Weise.
Leicht schwankend tritt Stephan Alfare nach seinem Vortrag ab. Netter Applaus, Bier für den Autor. Ich nehme die Lesung als Versprechen und tippe auf einen abenteuerlichen, zugleich traurigen Roman. Nicht im Palais, woanders werde ich die restlichen Kapitel lesen.
Senta Wagner
Stephan Alfare: Der dritte Bettenturm. Wien: Luftschacht Verlag 2011. 390 Seiten. 21,40 Euro.