Flower Power in der Tundra
Seinen mittlerweile neunten Roman schätzt der amerikanische Erfolgsautor T.C. Boyle selbst als seinen „ersten unkomischen Roman“ ein – und es ist zugleich einer seiner besten! Mit „Drop City“ hat der 55-jährige eine einfühlsame, rauschende Saga über die Flower-Power-Zeit und ihre Utopien vorgelegt – so der Traum von einem „Leben in Frieden und Gelassenheit, ein Leben in Liebe und Meditation und Vertrauen auf das Einfache, keine Verstellung, keine Spielchen, keine Plastikbegierde auf der Jagd nach dem Dollar“.
In „Drop City“, einer ländlichen Hippie-Kommune in Kalifornien, wird dieser Traum lustvoll erprobt. Mit dem Oberguru Norm leben hier rund 60 „Drop Outs“, darunter die junge Star und ihr Freund Ronnie, der „hipste, coolste … Blumenkinderfreak im ganzen Universum“, sowie der gerade angekommene Marco. Ohne die Verpflichtungen der verachteten und verhassten „Spießerwelt“ leben sie hier in den Tag hinein, bauen Gemüse an, melken Ziegen, trinken billigen Rotwein, rauchen Gras und Dope, schmeißen – „drop in“ – LSD ein und lassen sich von Jimi Hendrix, Jefferson Airplane und den übrigen Musik-Heroen der 60er und 70er berieseln. Doch ganz so friedlich wie erträumt ist auch das Leben in „Drop City“ nicht: Hippie-Touristen strömen in die Kommune, Müll und Fäkalien stapeln sich in der Landschaft, Schnorrer nutzen die Gemeinschaft aus, und es gibt – menschlich, allzu menschlich – Streit, Gehässigkeit und Eifersucht. Die freie Liebe erscheint so nicht nur Star immer mehr als „die Erfindung von irgendeinem Freak mit Pickeln und widerlich fettigen Haaren …“ Die Situation eskaliert, als eine junge Ausreißerin vergewaltigt und ein kleines Kind einen LSD-Cocktail zu sich nimmt.
In einem parallelen Erzählstrang schaltet Boyle in die tiefste Wildnis Alaskas hinüber, wo Sess in einer spartanischen Blockhütte ein fast autarkes Leben führt. Über eine Annonce hat er Pam kennen gelernt, die von der städtischen Zivilisation die Nase voll hat und zurück in die Natur will. Mit Inbrunst schildert Boyle das Leben in der Wildnis, die unendliche Faszination der rauschenden Flüsse und Wälder, des Jagens, Fischens und Sammelns in der reich gefüllten sommerlichen Speisekammer. Doch auch hier ist die Idylle durch Psychopathen wie Joe Bosky bedroht, der einen erbitterten Privatkrieg gegen Sess und sein neues Glück mit Pam führt.
In „Drop City“ erweist sich T.C. Boyle wieder einmal als ein schlichtweg atemberaubender Erzähler. Unwiderstehlich wird der Leser in den Strom seiner sinnlich-sämigen und mit funkelnden Metaphern aufgeladenen Prosa hineingezogen. Die Welt gewinnt an ungeahnten Dimensionen und Facetten, wenn Boyle sie in den Blick nimmt. Da ist der Morgen „ein Fisch im Kescher, glitzernd und zappelnd am pechschwarzen Rand ihres Bewusstseins“ und die „Blätter raschelten als hätte jemand ein neues Dia in den Projektor geworfen, der die Welt war“.
Statt mit dem bisher bei ihm gewohnten Spott und zynischen Humor nähert Boyle sich seinen Protagonisten mit viel Empathie und entwirft komplexe Charaktere. Er führt uns dabei die ungeheure Naivität und Blauäugigkeit der Hippie-Generation vor Augen und zeigt, wie ihre Utopien eben daran zu scheitern drohen. Und jedesmal wenn Boyle in seinem überschäumenden Erzählen an Naturkitsch und Aussteigerromantik vorbeizuschrammen droht, dann bricht unweigerlich eine vom Menschen gemachte Katastrophe herein und zerstört die Idylle.
So wird „Drop City“ aufgrund einer richterlichen Verfügung mit Bulldozern geräumt. Mit einem gelben klapprigen Schulbus führt der Oberguru Norm, der in direkter Nachbarschaft zu Sess und Pam (welch Zufall!) eine Hütte geerbt hat, seine Schäfchen nach Alaska. Als „Greatful Dead“ auf Tournee überqueren sie die Grenzen und fallen wie bunt verkleidete Außerirdische in die raue Männerwelt des hohen Nordens ein. Mit viel Tatendrang bereiten sie hier ihr Leben in und mit der Natur vor und fühlen sich wie die Pioniere, die „etwas ganz von vorn und aus dem Nicht heraus aufzubauen“ versuchen. Doch dann naht der Winter mit seiner klirrenden Kälte und ewigen Dunkelheit: Aus dem verträumten, drogengeschwängerten Aussteigerleben wird existentieller Ernst – und die Blumenkinder müssen erwachsen werden oder untergehen.
Karsten Herrmann
T.C. Boyle: Drop City. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser 2003. Gebunden. 525 Seiten. 24,90 Euro. ISBN 3-446-20348-6