Das Leben ist anderswo
– Vor zwei Jahren schrieb sich Tanja Maljartschuk mit ihrem wunderschönen Roman „Biographie eines zufälligen Wunders“ in die erste Liga der zeitgenössischen Literatur. Mit „Von Hasen und anderen Europäern“ beweist sie, dass sie genau dort hingehört. Von Andreas Pittler
Hört man das Wort „Ukraine“ dieser Tage, so denkt man an kriegerische Auseinandersetzungen, politische Muskelspiele und verbales Säbelrasseln. Doch die Ukraine ist ein Staat, in dem Millionen von Menschen Tag für Tag leben und überleben wollen. Was selbst dort nicht so einfach ist, wo es ganz offiziell friedlich und „normal“ zugeht.
Dieser kleinen Leute hat sich Maljartschuk in ihrem neuen Werk einmal mehr angenommen. Und so greift dabei zu einem durchaus gewagten Vergleich, stellt sie doch den Protagonisten ihrer Geschichten Tiere gegenüber, deren charakteristischen Eigenschaften quasi auch für die Helden der jeweiligen Erzählung gelten: Der Angsthase, die fiese Ratte, der treue Haushund.
Und doch griffe es zu kurz, Maljartschuks Kurzprosa auf psychologische Deutungsmuster á la Theophrast zu verkürzen, denn eigentlich wollen die Menschen bei Maljartschuk nur eines: ihr klitzekleines Stück vom Glück, ihr Movens, es weiter mit dem Leben und seinen Unbilden aufnehmen zu können. Da ist Bella, die von dem Mann träumt, dem sie noch nie begegnet ist, von dem sie aber weiß, dass er „der eine“ sein wird, der für sie bestimmt ist. Und dann ist da Tamara, die mangels menschlicher Alternative auch einer Hausratte freundschaftliche Gefühle entgegenzubringen lernt. Oder Antonina, die eigentlich Viktor nur Manieren beibringen wollte und feststellen muss, dass er für sie – und sie für ihn – ein wahrer Glücksfall ist. Maschka hingegen hat auf die harte Tour zu lernen, dass das Alleinsein auch seine Vorteile haben kann, während sich für Wanja und Halschka auch eine tiefgefrorene Portion Pelmeni als Goldschatz zu entpuppen vermag.
Kampf mit den Tücken der Objekte
Gemein ist den Bewohnern Kiews – und wohl unzähliger anderer Städte der Ukraine – der beständige Kampf mit den Tücken der Objekte. Ein Fahrstuhl, der seit langem schon kaputt ist, für dessen Reparatur sich aber niemand zuständig fühlt, sodass die Bewohner auch weiterhin tagein, tagaus Treppen steigen müssen. Pasjo wiederum ringt der gelangweilten und unmotivierten Verkäuferin im Süßwarenladen endlich die ansprechende Bedienung ab, ein Sieg im sonst so trostlosen Alltag. Ein Alltag, der immer noch geprägt ist von der sowjetischen Vergangenheit, die nicht aus den Köpfen der Menschen weicht. Auf Schritt und Tritt begegnen sie uns, die sowjetischen Helden wie Panfilow (der Wolokolamsk gegen die Nazis verteidigte), Frunse (der mit Trotzki die zaristischen Generäle besiegte) oder Majakowski, an deren Stelle in der „neuen Ukraine“ (noch) nichts getreten ist. Man träumt vom besseren Leben, doch man weiß nicht, wie man es erwirken soll. Die Wirklichkeit ist trost- und hoffnungslos, und wenn man schon nicht tatsächlich flüchten kann, so will man es wenigstens in Gedanken tun. Denn eines wissen Maljartschuks Heldinnen ganz genau: Ändern wird sich nie etwas, so sehr man es auch immer erhoffen mag.
Und wie schon im „zufälligen Wunder“ erweist sich erneut, welch begnadetes schriftstellerisches Talent Tanja Maljartschuk besitzt. Mit ungemeiner Empathie und präziser Beobachtung beschreibt sie die Träume und Hoffnungen ihrer Mitmenschen und porträtiert damit eine verlorene Generation, die macht- und sprachlos im politischen Ränkespiel zurückbleibt. Egal, wer sich auch immer Präsident der Ukraine nennen mag, für jene, denen auf jede Hrywnja stets 99 Kopijki fehlen, ist das ohne Belang, denn um sie und ihre Sorgen kümmern sich die Herren in der Werchowna Rada ohnehin nicht.
In der Ukraine regiert, wie in vielen postsozialistischen Staaten, die Tristesse. Doch Maljartschuk versteht es einfühlsam, dieser durch ihre poetische Sprache und ihre liebevollen Beschreibung die Schärfe zu nehmen – wenigstens für die 255 Seiten ihres Buches.
Im Oktober 2013 schrieb ich an dieser Stelle, der Leserschaft seien noch viele Werke aus der Feder dieser bemerkenswerten Autorin zu wünschen. Mit diesem Band hat Maljartschuk diese These eindrucksvoll bestätigt.
Andreas Pittler
Tanja Maljartschuk: Von Hasen und anderen Europäern. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Edition FotoTAPETA. Berlin 2014, 255 Seiten, 19,80 Euro.
P.S.: Veranstaltungshinweis: Andreas Pittler liest auf dem Krimifestival München
21.3., 18:00 Uhr, Buchhandlung Lentner, Balanstr. 14, 81669 München