Geschrieben am 16. Oktober 2013 von für Bücher, Litmag

Tobias Lehmkuhl: Die Odyssee. Ein Abenteuer

Tobias Lehmkuhl_Die Odyssee.Ein AbenteuerUnterwegs mit Odysseus

– Er wollte auf der von Homer in der „Odyssee“ beschriebenen Route ursprünglich nur einige Spuren entdecken, die Odysseus vielleicht hinterlassen hatte. Doch dann tauchte Tobias Lehmkuhl so intensiv in die bunte Mittelmeer-Sphäre ein, dass aus seinen Impressionen ein unterhaltsames Reise-Abenteuer wurde. Von Peter Münder

An der Peripherie der andalusischen Stadt Huelva wandert er den Strand entlang, klettert einen Hang hoch, fährt mit dem Bus zum Friedhof, lässt sich den Weg zu einem Grab zeigen – doch dann hat der auf Odysseus‘ Spuren wandelnde Tobias Lehmkuhl völlig vergessen, welches Grab er sich eigentlich ansehen wollte. Und war er bei seiner Schauplatz-Recherche in Andalusien nicht irgendwie vom Kurs des griechischen Königs abgedriftet?

Tagelang grübelt er noch über diese Episode nach, aber erst nach seiner Rückkehr aus Afrika fällt ihm ein, um welches Grab und um welchen Mann es sich handelt: Es war „Der Mann, den es nie gab“. Seine Leiche war im April 1943 vor der Küste von Huelva angeschwemmt worden. Sie war von den Briten präpariert, mit einer Offiziersuniform sowie einer Aktentasche und angeblich geheimen Unterlagen zur bevorstehenden Invasion der Alliierten ausgestattet worden, die den deutschen Militärs eine Landung auf Sardinien und im Balkan suggerieren sollten – es war ein penibel eingefädeltes Täuschungsmanöver gewesen, dass die Invasion in Sizilien verschleiern sollte. Also „ein trojanisches Pferd“, konstatiert Lehmkuhl.

Diese Beschreibung seiner Exkursion illustriert sehr schön die „Recherche-Methode Lehmkuhl“: Er bereitet keine akribisch ausgearbeiteten Pläne vor, er räsoniert auch nicht larmoyant oder bedeutungsschwanger, was hinter diesem Lapsus stecken könnte, sondern er reist erstmal weiter und wartet ab, was sich aus der Situation so ergibt. Im Zentrum seines Erkenntnisinteresses stehen Landschaft, Leute und Sehenswürdigkeiten. Seine eigenen Empfindlichkeiten, Emotionen, Erinnerungen blendet er zwar auch ein, doch er ist kein eitler Profilneurotiker, der seine subjektive Sicht in den Mittelpunkt stellt oder den Leser mit großer Bildungshuberei beeindrucken will.

Er lässt sich gern treiben, was ihm auch ziemlich leicht fällt, denn all die in der Odyssee erwähnten Stationen, die der listenreiche Herumirrende heimgesucht hat, sind gar nicht zweifelsfrei zu eruieren. Wie ja unter Altphilologen immer noch ziemlich umstritten ist, wer dieser Homer überhaupt war, wo er lebte – vielleicht war diese Gestalt ja auch eine Frau gewesen? Die Angst, etwas zu versäumen, was für die Irrungen und Wirrungen des Odysseus heute noch relevant sein könnte, sie hält sich also in Grenzen. Dementsprechend gelassen kann sich Lehmkuhl auf Treffen mit deutschen Truckern auf einer Fähre einlassen, auf Gespräche mit Griechen und attraktiven Griechinnen, die kritisch die jüngste Finanzkrise beurteilen oder auf deutsche Lehrer, die lange in Griechenland im Einsatz waren und ihn zum Essen und zum Segeltörn einladen. Und dann noch dieses elektrisierende Aha-Erlebnis, der Besuch in der Villa, die sich der von Lehmkuhl verehrte englische Reiseschriftsteller Paddy Leigh Fermor (1915-2011, „Zu Fuß nach Konstantinopel“, „Zwischen Wäldern und Wasser“, „Rumeli“) in der Mani an einer einsamen Bucht gebaut hatte.

Die Besichtigung dieses Hauses mitsamt dem Arbeitszimmer und der Bibliothek wird für Lehmkuhl zum beeindruckenden, nachhaltigen Erlebnis. Denn der vor zwei Jahren in England verstorbene Paddy ist für ihn immer noch ein Bruder im Geiste, der sich auf das Wesentliche beschränkte und keinen Wert auf gekünstelt-ostentativen Humbug legte: „Was war das für ein Haus! Wie wundervoll waren die Dinge in ihm beschaffen! Alles schien von leichter Hand arrangiert, improvisiert fast, mit Gespür für das richtige, menschliche Maß. Es war, obwohl sein Erbauer unter der Erde lag, unter englischer Erde zudem, höchst lebendig, als hätte Fermor ihm ein Leben eingehaucht, das mit seinem Tod nicht verwehen würde, vorerst nicht“.

Diesen starken, aufwühlenden Eindruck beschreibt er noch differenzierter: „Auf dem Weg zurück nach Kardamili kämpfte ich mit den Tränen, es überkam mich eine Traurigkeit, wie ich sie lange nicht mehr verspürt hatte. Erst dachte ich, ich würde über all die Schönheit weinen müssen, ergriffen von der Schöpfung, von dem, was die Natur und mit ihrer Hilfe auch der Mensch hervorzubringen in der Lage war. Doch wie eine feine, brennende Ader durchzog ein heftiger Schmerz das Gefühl der Vollkommenheit, des seligen Einklangs. Es war nicht Trauer über den Tod Fermors, den ich nicht persönlich gekannt hatte, oder über den verwehbaren Niedergang und Verfall seines Hauses. Es war angesichts der Größe des Mannes und der perfekten Schönheit seines Hauses vielmehr das plötzliche Bewusstsein um die Vergänglichkeit aller Dinge: Wenn dies keinen Bestand hätte, dann würde nichts Bestand haben, dann verschwände alles, unausweichlich. Wie ein tödlicher Blitz durchzuckte diese Ader des Schmerzes mein Gefühl von Vollkommenheit“.

Odyssee_Route

Elegant und dezent sind Lehmkuhls Anspielungen auf die vor ca. 2700 Jahren entstandene homerische Vorlage und Inspiration für seine Mittelmeer-Tour: Es gibt Begegnungen mit Soldaten und Grenzbewachern, die Erinnerung an die erste große Liebe des 18Jährigen, die er gerne nach all den Jahren wiedersehen würde, was leider nicht klappt. Lehmkuhl drängt sich nicht auf, diese Parallelen zur Odyssee herzustellen, das überlässt er dem Leser, den er nie unterschätzt.

Es gibt auch, wie bei Homer, ein Prooimion, das sich bei Lehmkuhl „Ein Vorgeschmack“ nennt und seine Ankunft in einer billigen griechischen Taverne beschreibt, wo der ausgehungerte Gast beim Chef ein Essen bestellt und eine kaum genießbare Fischsuppe voller Gräten und Häute bekommt. Dafür soll er noch einen unverschämt hohen Preis bezahlen. Als der Chef triumphierend die exorbitante Summe nennt („Das ist der Preis“) und sich mit federnden Schritten der Bucht zuwendet, resümiert der deutsche Chronist: „Hier bist du also zu Hause, Odysseus“ und beendet diese Einstimmung mit der hübschen Pointe „ Dann legte ich das Geld in die Suppe“.

So aufmüpfig-widerborstig verhält er sich sonst aber nicht: Von einem rabiaten „Führer“ lässt er sich widerstandslos auf einem verlassenen baufälligen Turm ausrauben, ein anderer trickreicher junger Cicerone kann den deutschen Besucher dazu bringen, aberwitzige Summen für Essen und Getränke in einem Restaurant zu zahlen, mit dessen befreundetem Besitzer sich der Betrüger dann das üppige Sümmchen teilt.

Im Hintergrund beschäftigt den Spurensucher zwar Odysseus, doch das eher diffuse Stochern im Nebel diverser Theorien und Spekulationen über dessen Irrfahrten und Aufenthalte erleichtert es dem Chronisten Lehmkuhl, die Auseinandersetzung mit den in 24 Büchern ausgewalzten 12 200 Hexameterversen nur am Rande zu betreiben und sich vor allem auf seine eigenen Erfahrungen und Impressionen zu konzentrieren, was für den Leser absoluten literarischen Hochgenuss bedeutet. Selbst wenn er in Gibraltar britische Dumpfbacken beim Fish-and-Chips Verzehr befragt oder deutsche mit High-Tech-Bergsteiger-Gerät ausgerüstete Vulkan-Touristen am Stromboli trifft, bedient er nie plumpe Klischees, sondern beschreibt ironisch eingefärbte, aber sehr präzise Szenarios, die auch seine eigene Unsicherheit oder Ratlosigkeit erfassen.

Nicht umsonst hat Lehmkuhl daran erinnert, dass der Hohepriester der modernen, tiefbohrenden Mythen-Analytiker und Reiseschriftsteller, nämlich Bruce Chatwin („Traumpfade“), von Fermor längere Zeit in seinem griechischen Haus untergebracht wurde. Lehmkuhl gehört jedenfalls, auch wenn er kein lebensmüder Abenteurer ist, in die kleine Riege begnadeter Autoren, die Reisebeschreibungen im souverän – eleganten Stil und einem auf absolute Tiefenschärfe konzentriertem Erkenntnisinteresse zum großen literarischen Erlebnis machen.

Tobias Lehmkuhl by Peer KuglerExkurs: Flucht, Forschung und Abenteurer- Quo Vadis, Reisebuch-Genre?

Reiseschriftsteller, die sich in exotischen Breiten mit Banditen, Krankheiten und Katastrophen auseinandersetzen, waren und sind immer noch meistens Amerikaner oder Briten wie der erwähnte Patrick Leigh Fermor. Der spazierte als 18-Jähriger, genervt von pedantischen Schulmeistern und bevormundenden Besserwissern, 1933 einfach auf den Kontinent und verbrachte spannende Jahre in Bulgarien, Rumänien und vor allem in Griechenland, wo er während der Nazi-Invasion mit griechischen Widerstandskämpfern auf Kreta einen deutschen General entführte und sich schließlich auch in Griechenland niederließ .

Der amerikanische Eisenbahn-Freak Paul Theroux („The Great Railway Bazaar“, „The Old Patagonian Express“), der das Fliegen hasst und sich schwor, nur einen Flieger zu besteigen, wenn es absolut unvermeidbar wäre, stieg an einem tristen verschneiten Wintertag in Boston in die U-Bahn und fuhr dann vom Hauptbahnhof mit dem Zug, per Bus und einer Fähre nach Patagonien. Für ihn galt bei seinen Reisen allerdings immer die Devise „Der Weg ist das Ziel“. Andere Passagiere empfand er meistens als lästige Dumpfbacken; ob Mexiko, Peru oder Argentinien – ihm erschienen Landschaften, Sehenswürdigkeiten und Einheimische meistens nur als vollkommen überflüssige Störfaktoren. Und wehe, jemand störte ihn bei der Lektüre der Tagebücher von James Boswell! Dann gab es ein wütendes Donnerwetter vom misanthropischen Traveller, der eigentlich immer nur auf der Flucht war.

Echte Abenteurer, die Kopf und Kragen riskieren und darüber dann selbstironisch-distanziert berichten, sind natürlich rar, aber umso spannender und exotischer sind ihre Reiseberichte. Natürlich gehört der unermüdliche, wissbegierige Wanderer und Kulturhistoriker Johann Gottfried Seume (1763-1810) dazu, der auf dem Weg nach Sizilien mehrmals überfallen wurde, diese Zwischenfälle aber mit stoischer Gelassenheit eher als unerfreuliche Naturkatastrophen betrachtete und dann in seinen Aufzeichnungen („Spaziergang nach Syrakus“, 1803) triumphierend vermerkte, dass die schwerbewaffneten Räuber seine am Körper versteckten kleinen Schätze nicht finden konnten.

Ähnlich aufregende, exotische Reise-Abenteuer haben deutsche Gegenwarts-Autoren kaum zustande gebracht – so etwas wagen offenbar nur noch anglo-amerikanische Reporter, denen die Gier auf Adventure-Trips immer noch im Blut zu stecken scheint. Dazu gehört der Engländer Redmond O´Hanlon, der im Kongo in einem völlig unzugänglichen Gebiet den sagenhaften Dinosaurier Mokele-mbembe aufstöbern wollte („Congo Journey“,1997), Tim Butcher, der durch afrikanische Kriegsgebiete marschierte („Chasing the Devil“, 2010) oder Carl Hoffman mit seinen aberwitzigen Kamikaze-Trips auf völlig überladenen Fähren und in schrottreifen Bussen durch die unfallträchtigsten Regionen in Südamerika, Asien und Afrika („The Lunatic Express“). Kurz und gut: Das Reisebericht-Genre ist genauso vielfältig und entwicklungsfähig wie der Kriminalroman und bietet immer wieder neue Überraschungen.

Fazit: Wenn der Berliner Journalist und Autor Tobias Lehmkuhl, 37, („Land ohne Eile. Ein Sommer in Masuren“) sich also auf die Spuren von Odysseus macht, um in der Türkei, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und Tunesien mögliche Schauplätze der Odyssee zu finden, dann erwarten viele Leser wohl eher zitatenreiche Bildungsbürger-Weisheiten oder Altphilologen-Exkurse über die Wege des listenreichen Helden.

Lehmkuhl fährt aber nicht mit abgespeichertem Archiv zu den angesteuerten Schauplätzen, er hat weder Reiseführer noch Zettelkasten dabei und daher wirkt sein Bericht auch wie eine improvisierte Führung, zu der wir spontan eingeladen sind. Mit seiner Offenheit für überraschende, auch unerfreuliche Situationen und seinem brillanten Stil, der sich durch eine wohltuend subtile Ironie auszeichnet, muss er jedenfalls auch in die Liga der Edelfeder-Abenteurer wie Fermor, Chatwin oder O´Hanlon einbezogen werden.

Peter Münder

Tobias Lehmkuhl: Die Odyssee. Ein Abenteuer. Rowohlt, Berlin 2013. 301 Seiten. 19,95 Euro (16,99 Euro eBook). Foto by Peer Kugler.

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