Glück im Unglück
Wenn in Deutschland ein armer Schlucker bei Günter Jauch eine Million Euro abräumt, ist das eine Sensation. Wenn in Indien ein simpel gestrickter Kellner eine Milliarde Rupien gewinnt, wird aus der Sensation ein Skandal. Zumindest für den indischen Produzenten von „Wer wird Milliardär“. Dass ein Straßenjunge auf seinem steinigen Lebensweg mehr lernt als zu stehlen und zu betteln, kann und will er nicht glauben. Vikas Swarup beiweist ihm und den Lesern in seinem Erstlingsroman „Rupien! Rupien!“ das Gegenteil.
Wo der Zufall regiert, hat der Verstand keine Chance. Da kann man nur staunen. Staunen wie der Moderator der indischen Version von „Wer wird Millionär“. Woher der Waisenjunge Joseph Michael Thomas weiß, „in welchem Shakespeare-Stück ein gewisser Schädel vorkommt“, bleibt für den Quizmaster und das Publikum bis zum Schluss der Sendung ein Rätsel. Für den Leser von Vikas Swarups modernem Märchen „Rupien! Rupien!“ jedoch nicht. Denn der weiß bei der Milliarden-Frage um Thomas’ ebenso abenteuerliche wie leidvolle Biographie. Und allein sie enthüllt uns das Geheimnis seines mehr als zufälligen Wissens.
An diesem Wissen und der für indische Verhältnisse unglaublichen Gewinnsumme kann sich Thomas allerdings nicht erfreuen. Der Fernsehproduzent glaubt nicht an Zufall, sondern an Betrug. Er lässt ihn kurzerhand von der korrupten Polizei festsetzen und auf mit Stromschlägen und ähnlich grausamen Foltermethoden verhören. Denn die Auszahlung des Milliardengewinns würde für den skrupellosen TV-Boss den Ruin bedeuten. Aber Thomas hat Glück im Unglück. Eine junge engagierte Anwältin hat von seiner Verhaftung Wind bekommen und ist nun fest entschlossen, seine Unschuld zu beweisen. Dass sie als Einzige den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen ermessen kann, wird mit einem einzigen Satz zart angedeutet und erst auf den letzten Seiten auf äußerst überraschende Weise geklärt.
Schonungslose Lebensbeichte
Bereitwillig und schonungslos offen breitet Thomas sein Leben vor ihr aus. Und zwar im Takt der ihm damals gestellten Quizfragen. Denn mit jeder Antwort, mit jedem Wissenspartikel verbindet sich eine Episode seines Lebens als Waisenjunge, der kurzfristig von einem Priester aufgenommen wurde, nach dessen Ermordung aber von einem Abenteuer ins andere stürzt und sich von einem Job zum anderen hangelt. Sich als Diener, Barkeeper und Fremdenführer verdingt und dabei in die Fänge von üblen Kinderschändern, von spionagefreudigen West-Diplomaten, verwelkenden Filmdiven und verlogenen Witwen gerät. Aus diesem Netz von List und Gewalt kann er sich immer wieder befreien und erblickt schließlich in der Liebe zu einer bildhübschen Prostituierten eine lichtere Zukunft. Aber auch hier schlägt ihm das Schicksal in der Person ihres Zuhälters ein Schnippchen. Bis er durch Zufall die Chance seines Lebens erhält und seinerseits dem Schicksal ein Schnippchen schlagen kann und den Milliarden-Jackpot knackt.
Das alles klingt so abenteuerlich und unglaublich, wie es Swarup in ebenso nüchternen wie lebhaften Bildern beschreibt. „Rupien! Rupien!“erzählt weniger von dem sagenhaften Glück eines Waisenjungen, sondern von der unbarmherzigen sozialen und moralischen Verkommenheit des boomenden Indien. Die Kluft zwischen den Kasten, zwischen den Religionsgemeinschaften, zwischen Fremden und Einheimischen ist riesig. Sie verschlingt die Ärmsten der Armen, zu denen Thomas zweifellos zählt. Scharfsinn und Alltagsklugheit retten ihn. Zur Belohnung seiner Zivilcourage, seiner Leidensfähigkeit und seines Sinns für wahre Freundschaft schenkt ihm Swarup ein Happyend, das jeder Bollywood-Produktion alle Ehre machen würde.
Psychologisches Feingefühl
Wie in vielen anderen indischen Gegenwartsromanen wird auch in „Rupien! Rupien!“ die melodramatische Parallelwelt aus Bollywood als Opium fürs Volk entlarvt. Swarups Held schaut hinter die Kulissen dieser „Phantasiewelt“, die für ihn am Ende zur Realität wird. Ein dialektisch Winkelzug, der vor allem die dramaturgische Kunstfertigkeit des Autors beweist. Und den Hang vieler indischer Romanciers und Drehbuchautoren zur etwas überdrehten Konstruktion des Plots. Denn der Leser staunt nicht schlecht über die fantastischen Erlebnisse des Protagonisten und das furiose Finale, in dem sich alles so elegant auflöst. Trotzdem überwiegt das moralische und psychologische Feingefühl des weitgereisten Diplomaten Swarup. Das Märchen vom ahnungslosen Kellner, der es zum milliardenschweren Wohltäter bringt, ist ein ebenso unterhaltendes wie erschütterndes Sittenbild Indiens.
Jörg von Bilavsky
Vikas Swarup: Rupien! Rupien!. Kiepenheuer & Witsch 2006. 352 Seiten. 8,95 Euro.