Exquisite Lüste:
Einen Roman nach 823 Seiten mit dem eigenen Waschzettel zu beenden, ist ein schöner Scherz. Über ebenso viele Seiten eine vom Kindes- bis ins Greisenalter währende Liebe darzustellen, befeuert den Scherz mit Kühnheit. Und, drittens, den Liebenden selbst erzählen zu lassen, brillant und eitel wie der Autor – ja, da wir sind in Nabokovs Palast. Von Gisela Trahms
„Ada oder Das Verlangen“ lautet der vollständige Titel, im Original: „Ada, or Ardor“, ein dunkelsamtener Klang mit den Stolpersteinchen des zweimaligen „d“. Ort des Geschehens (im ersten Teil von fünf) ist der luxuriöse Landsitz Ardis, griechisch „Pfeil“ (o Amor! Und noch ein A!). Dort begegnet der vierzehnjährige Van Veen seiner elfjährigen „Kusine“ Ada. Gleichermaßen hochbegabt, smart und schön, sieht jeder im anderen sein Ideal verwirklicht, erst recht, als sie entdecken, dass sie Bruder und Schwester sind. Einen müßigen Sommer lang realisieren sie voll erotischer Energie den mythischen Traum vom Einssein der Geschlechter. Vier Jahre später folgt ein zweiter Sommer. Und just als der Leser erste Erschöpfungszeichen beim Verfolg des exquisiten Glücks verspürt, ist es zu Ende und es beginnen die Zeiten der Trennung.
Sie füllt der unermesslich reiche Van mit seiner Autobiographie, d.h. mit Erfolgen aller Art. Wie sein Schöpfer Vladimir studiert er in Cambridge; nicht nur legt er glänzende Examina ab, sondern perfektioniert sich auch als Auf-den-Händen-Läufer und Illusionist. Leichtigkeit also, Grazie und Grenzenlosigkeit… Später schreibt er Romane und Essays, indes Ada sich Nabokovs anderer Passion, der Schmetterlingskunde, widmet. Prächtig, prächtig – aber während die Beiden durch ein langes Leben voller Seide und Champagner gleiten (die letzte Altersangabe lautet 97), wird man den Dauereindruck eines kühlen Ästhetizismus selten los.
Scheusslichkeiten im Plauderton
In Hitze redet sich Van jedoch, wenn er in geradezu manischer Deutlichkeit und seitenlang von einer internationalen Bordellkette und den in ihr für schweres Geld zu erlangenden, vorwiegend pädophilen Genüssen berichtet, die ihm helfen, die Solostrecken zu ertragen. Das ist widerwärtig, besonders deshalb, weil er den leichten Plauderton keineswegs ablegt. „Van ist ein Scheusal“, urteilte Nabokov in einem Interview. Aber innerhalb des Romans ist von kritischer Distanz nichts zu spüren.
„Ada“ spielt auf dem erdachten Planeten Antiterra, der sehr irdische Reiche, Landschaften, Sitten und Zeiten übereinander blendet. Dort scheinen solche „Clubs“ keinem Tabu zu unterliegen, was die Widerwärtigkeit noch erhöht. Während „Lolita“ ein zielgenaues Amerika-Panorama entfaltete, in dem Humbert Humbert für sein Begehren mit dem Leben zahlt, bleibt Antiterra als Ganzes von kosmopolitischer Blässe, bis auf einzelne, intensiv leuchtende Lokalitäten (Ardis zum Beispiel). Und wie geht man auf Antiterra mit dem Inzest um? Sehr terrestrisch, zu unserer Überraschung. Demon Veen, Vater der Geschwister und ein Sex-addict wie sie, verbietet ihnen das Zusammenleben und sie fügen sich.
Warum eigentlich? Inzest zwischen Geschwistern mobilisiert doch nur einen lauen Widerwillen. Ada und Van begegnen sich auf Augenhöhe, Verführung und Gewalt, wie in „Lolita“, gibt es hier nicht. Und daher, so scheint es zunächst, auch keine Tiefendimension, keine Tragik. Dass sie lange Lebenszeiten getrennt voneinander verbringen, dass Ada sogar einen stupiden Rinderzüchter heiratet, dass die Liebenden erst zusammenkommen, als sie über fünfzig und körperlich ruiniert sind – ja, das ist freilich traurig, aber als Konstellation nicht annähernd so diabolisch und herzzerreißend wie die Besessenheit, mit der Humbert Humbert Lolita liebt und zerstört.
Zerstörerische Glut
Die Temperatur steigt erst, als Lucette, die jüngere Halbschwester, die Dritte im Bunde sein will. Ihre Liebe wird abgewiesen. Gäbe Van Lucettes Werben nach, zerbräche das Einssein mit Ada. Die Ausschließlichkeit und Exklusivität der Paarbeziehung, im Inzest auf die Spitze getrieben, gebiert einen unlösbaren Konflikt. In ihm tobt endlich „ardor“, die destruktive Glut, und nicht nur ein durables, lebenslanges Glühen. Dass der Eros ruiniert, ist sozusagen ein Nabokovsches Existential, und er ruiniert auch und macht schuldig, wenn die Liebenden gleichaltrig und einander ebenbürtig sind. So springt die „phantastisch komplizierte“ Lucette mit der kupferfarbenen Mähne in den Tod, und da sie Herz und Sinne des Lesers intensiver entflammte als die bleiche, überkluge, schwarzhaarige Ada, will ihn danach so recht nichts mehr wärmen.
Wäre da nicht die Sprache.
Sie ist es, die uns von einem Entzücken ins nächste treibt, mit ihr beginnen wir die wahre Affäre, wie immer bei Nabokov. Auf jeder dritten Seite möchte man in die Knie sinken ob der polyglotten, anspielungsgesättigten Artistik (neben dem funkelnden Deutsch der Übersetzung von Dieter E. Zimmer und Uwe Friesel lebt der Text von der Fülle russischer, französischer und englischer Einsprengsel). Das eigentliche Thema (wie immer bei Nabokov) ist die Sprachwerdung der Welt. Van, der Erzähler, stellt sich die Aufgabe, „etwas auszudrücken, das bis zu seiner Benennung nur ein Dämmerdasein gefristet hatte (oder überhaupt keins)“, und das gelingt ihm blendend. Um und um mousse au chocolat für den Leser, bis er nach Luft schnappt.
Gerührt und überwältigt
Mit „Pnin“ und „Lolita“ stieg Nabokov in den literarischen Olymp auf. „Ada“ erweist sich als groß angelegter Abschwung. Aber das Bezauberungspotential ist immer noch gewaltig, die Einsichten abgründig, und im letzten Teil findet Nabokov zu einem seltenen, humorvollen, warmherzigen Spott, in den er sich selbst einbezieht, worüber man die eitlen Passagen fast vergisst. So scheiden wir gerührt und überwältigt.
Dieter E. Zimmer schrieb auch das Nachwort und stellte den Anhang zusammen, zwei Monumente der Kenntnis und Zuneigung. Der Verkauf zum Preis von 38,00 Euro erbringt wohl nur ein paar Heller im Vergleich zu den Talern, die dieses Gesamtkunstwerk gekostet hat. Daher sei denn auch mit Wärme jener Autoren gedacht, die dem Rowohlt – Verlag zu drucken erlauben, was ihn ehrt.
Gisela Trahms
Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke Bd. 11: Ada oder Das Verlangen: Aus den Annalen einer Familie (Ada, or Ardour: A Family Chronicle 1969). Roman. Neu übersetzt von Dieter E. Zimmer und Uwe Friesel. Reinbek, Rowohlt 2010. 1152 Seiten mit farbigen Abbildungen. 38,00 Euro.
AdaOnline – eine interaktive Ada-Lektüre von der University of Auckland.
Nabokov.de – das deutsche Nabokov-Forum
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