Leichte Unterhaltungslektüre
von Zoë Beck
Eine junge Frau stößt mitten in der Nacht einen Schrei aus. Minuten später trifft die Hausherrin im Zimmer der Dame drei Herren in Pyjamas an. Nancy, so heißt die junge Frau, ist wohlauf, nur ein wenig erschrocken, und die drei Herren wollten ihr offenbar zu Hilfe eilen. Eigentlich könnten jetzt alle wieder schlafen gehen.
Aber natürlich ist die Situation doch nicht so einfach. Nancy ist nämlich Gast bei einer Wochenendgesellschaft auf dem Land in den USA der späten 1920er oder frühen 30er Jahre. Sie ist nur sehr leicht bekleidet. Und einer der Pyjamas tragenden Herren ist der Ehemann der sittenstrengen Gastgeberin Mrs. Hanley, die um den guten Ruf ihres Hauses fürchtet. Sie verlangt daher, dass die Ereignisse, die zu dem nächtlichen Schrei führten, noch vor dem Morgengrauen lückenlos aufgeklärt werden. Dafür soll der ebenfalls als Gast anwesende Anwalt Mr. Landon sorgen. Und das tut Mr. Landon, indem er die Sache wie einen Kriminalfall angeht.
Ihm zur Seite steht der Butler Phipps, der noch bis vor kurzem als Kriminalkommissar gearbeitet hat. In dieser Nacht werden mehr Antworten gefunden, als es Fragen gab, und natürlich ist bei Sonnenaufgang nichts mehr so, wie es noch vor Mitternacht schien.
„Die Nacht mit Nancy“ ist einer der früheren Romane von Wilson Collison, der vor allem mit Broadway-Stücken bekannt wurde. Man merkt schnell, dass der Mann vom Theater kommt. Der Roman ist ein dialoglastiges Kammerspiel: Das Haus wird nie verlassen, der Raum, in dem die Vernehmungen stattfinden, erst ganz zum Schluss. Es wird ständig geredet. Die Prosapassagen sind fast überflüssig. Die Geschichte könnte so, wie sie ist, auf die Bühne gebracht werden. Auch inhaltlich ist „Die Nacht mit Nancy“ nah an der Farce und weit entfernt vom Gesellschaftsroman. Wilson Collison liefert damit das biedere Pendant zu dem, was einige seiner schreibenden Zeitgenossen formal und stilistisch wagten. Formal steht wohl eher Agatha Christie Patin.
Collison beschreibt auch nicht die Roaring Twenties, nicht den exzessiven, dekadenten Lebensstil der Schönen und Reichen, wie man es zum Beispiel bei Francis Scott Fitzgerald findet. Seine Wochenendgesellschaft will von Skandalen und Ausschweifungen nichts wissen, der Schein soll gewahrt bleiben, Moral steht über allem. Dass es da draußen Menschen gibt, die sich unschicklich benehmen, steht außer Frage, doch möchte man selbst keinesfalls mit diesen Leuten assoziiert werden. Mit jedem Kapitel bröckelt die Fassade. Die moralisch scheinbar Verkommene steht am Ende ganz bieder und bürgerlich da, sodass man ihr nichts anhaben kann, während die Moralapostel natürlich die meisten Leichen im Keller haben. Die Gesellschaftskritik beschränkt sich jedoch einzig auf sexuelle Verklemmt- und Verlogenheit und führt selbst da nicht besonders weit. Die Ehe als gesellschaftstragende Institution und moralische Instanz wird harmlos demontiert und gleich darauf wieder fest etabliert.
Echte Überraschungen bleiben aus, die im Klappentext angekündigte „selbstbewusste Heldin“ übrigens auch. Besagte Nancy liegt in erster Linie auf einem Sofa, ist nach Meinung sämtlicher anwesender Herren enorm hübsch anzusehen, reizt damit die Gastgeberin zur Weißglut und schläft irgendwann einfach ein. Sie verschläft sogar das Ende des Romans. Ihr Selbstbewusstsein scheint sie daraus zu ziehen, dass sie sehr wohl weiß, wie attraktiv sie auf Männer wirkt, und moralisch ist sie, soviel sei angedeutet, unangreifbar, trotz ihres sehr durchscheinenden Negligees. Nancy ist Objekt, nicht Subjekt, in allem passiv, niemals aktiv. Die Erforschung dessen, was in der Nacht passiert sein mag, bringt vielleicht so manche Lebenslüge ans Licht, etabliert aber nichts Neues oder gar Unerhörtes. Und eigentlich lässt es, besonders als heutige Leserin, auch kalt, wer mit wem eine Affäre hat und wessen Ehe dadurch bedroht sein mag. Keine der Figuren hat wirklich Tiefe, keine von ihnen erzeugt Sympathie. Sie alle sind bekannte Klischees, die besonders auch die Vorstellungen von den Geschlechterrollen der Zeit bedienen und in ihnen gefangen bleiben.
„Die Nacht mit Nancy“ kommt als leichte, aus der Zeit gefallene Unterhaltungslektüre daher. Amüsant und schnell liest man sich durch die kurzen Kapitel. Die Übersetzung von Johanna von Koppenfels ist lebendig und spritzig, getrübt wird sie nur durch gelegentliche Fehlgriffe (ein „Why“ ist manchmal einfach nur ein Ausruf und kein „Warum“, oder der „detective“, der zum „Detektiv“ wird …), aber insgesamt ist der Ton gut getroffen. Am Ende sind die Figuren aufgeregt und zugleich emotional erschöpft in Nancys Schlafzimmer versammelt, sie sind todmüde und größtenteils gedemütigt. Ein bisschen erinnert die Lektüre an eine große Portion Zuckerwatte: Sie macht für den Moment Spaß, aber hinterher ist man dann doch irgendwie unbefriedigt und sehnt sich nach etwas mit mehr Substanz.
Zoë Beck
Wilson Collison: Die Nacht mit Nancy. Deutsch von Johanna von Koppenfels. Hardcover. Louisoder Verlag 2016. 270 Seiten. 19,90 Euro.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich für die Sendung „Forum Buch“ auf SWR2 verfasst. Hier kann man ihn nachhören.