Die Stimmung war ähnlich
überschäumend wie damals vor 17 Jahren, eine knappe Woche nach Ceauşescus
Tod: Als am Silvesterabend auf dem Großen Ring, dem Hauptplatz von
Hermannstadt (rumänisch Sibiu), die Sektkorken knallten und zu den Klängen
aus Beethovens Neunter die EU-Fahne gehisst wurde, empfanden die
abertausenden Festgäste den Moment wohl als endgültige Besiegelung ihrer
seinerzeit so opferreich errungenen Freiheit. Inbrünstig sangen sie
anschließend beim Konzert der Rockgruppe "Phoenix"
jene Lieder mit, deren rebellische Texte während der Diktatur ihren
Widerstandsgeist angefacht hatten. Das Wissen, dass sich im alten,
erweiterungsmüden EU-Europa die Begeisterung über Rumäniens Beitritt in
Grenzen hält, konnte ihrem Enthusiasmus keinen Abbruch tun.
Am nächsten Abend ging die
Megaparty weiter, feierte man im Beisein von Staatspräsident und
Premierminister mit Konzerten und einer fulminanten Lichtshow samt Feuerwerk
den Beginn von Sibius Jahr als europäische Kulturhauptstadt. Und
signalisierte damit der Welt selbstbewusst, dass man diesen Status, den man,
gemeinsam mit Luxemburg, als erste Stadt aus einem der noch jungen,
östlichen EU-Mitgliedsländer erlangt hat, als immense Chance begreift.
Toleranz als Chance
Als das "Wunder
von Hermannstadt" hat Richard Wagner die erstaunliche Entwicklung der
südsiebenbürgischen Stadt nach 1989 kürzlich bezeichnet. Vielleicht mit der
Hoffnung, sie werde die Rumänen in diesen Zeiten des Um- und Aufbruchs auf
ähnliche Weise beflügeln, wie nach der Fußball-WM 1954 das "Wunder
von Bern" die Deutschen. Als Grundvoraussetzung für den erfolgreichen
Sonderweg nannte der rumäniendeutsche Schriftsteller eine historisch
gewachsene Gelassenheit. In der Tat war die Stadt am Zibinsfluss seit ihrer
Gründung im 12. Jahrhundert stets ein Ort der Toleranz. Hier und in den
Dörfern der Umgebung lebten seit alters Menschen unterschiedlicher Herkunft
und Konfession, Rumänen, Deutsche, Ungarn und Roma, Orthodoxe, Protestanten,
Katholiken und Juden – mal mehr mit-, mal eher nebeneinander, aber ohne
ethnische Konflikte, wie sie etwa in der Konkurrenzstadt Klausenburg/Cluj
bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder hochkochten. Als prägend
erwies sich der Einfluss der Siebenbürger Sachsen, der Nachfahren jener vor
800 Jahren vom ungarischen Königshaus zur Sicherung der südöstlichen
Reichsgrenze aus dem Rheinland, Flandern und Luxemburg verpflichteten
Kolonisten, deren Mundarten in der wundersam melodischen Sprache der
Rumäniendeutschen bis heute durchklingen. Vor allem sie, die gänzlich vom
Arbeits- und Ordnungs- und Bildungsethos der Reformation durchdrungen waren
und noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg fast die Hälfte der Einwohner
stellten, verschafften der Vielvölkerstadt nicht nur eine Karriere als
blühende Handelsmetropole und politisches Herz der "Sächsischen
Nation". Sie bescherten ihr auch eine bürgerliche Beschaulichkeit, die den
Exodus der Deutschstämmigen im späten 20. Jahrhundert offensichtlich
überlebt hat. "Jalousien aufgemacht, Jalousien
zugemacht", so hat der kürzlich verstorbene, in Hermannstadt geborene
Büchner-Preisträger Oskar Pastior diese spezifische Paarung von
selbstzufriedener Nabelschau und schöpferischer Neugier prägnant
umschrieben.
Nachhaltige Renaissance
Das materielle Erbe dieses
Lebensgefühls begeistert – im Verbund mit den grandiosen Kirchenburgen im
Umland –
zunehmend Reisende aus dem Westen: Hermannstadt, das dank seiner massiven
Befestigungen nie, nicht einmal von den Türken, erobert wurde, auch in den
modernen Kriegen kaum Zerstörungen erlitt und selbst vom Demolierungswahn
des Conducator weitgehend verschont blieb, ist in seinem Kern ein
architektonisches Bijou. Ein bezauberndes Stück Mitteleuropa im
Karpatenbecken, das abendländischer nicht sein könnte. Der Panoramablick vom
Ratsturm offenbart vor der Kulisse des bis in den Spätfrühling schneeweißen
Fagaras-Gebirges drei zentrale Plätze, verkehrsbefreit und eingerahmt von
einem pastellbunten Prachtensemble aus Kirchen, Patrizier- und
Handwerkerhäusern mit Laubengängen, rundum ein Geflecht gewundener Gassen,
Reste von Wehrmauern und jene berühmten Treppen, über die Émile Cioran, ein
weiterer prominenter Dichtersohn der Stadt, zwischen den Weltkriegen
allnächtlich seine legendären Spaziergänge unternahm.
Für schier endlose
Jahrzehnte war Hermannstadt, wie Transsilvanien insgesamt, gleich einer
Insel im Strom der Zeit unter grauem Schleier, in bitterer Armut isoliert
gewesen. Anfang der Neunziger begannen die Uhren nicht zuletzt dank
bundesdeutschem Know-how und Geld allmählich wieder zu ticken. Und seit der
Kür zur Kulturhauptstadt hält Europa, mit der Globalisierung im Schlepptau,
machtvoll Einzug. Als Pacemacher das enorme Modernisierungstempo bestimmt
seit 2000 Klaus Johannis. Der 47jährige Bürgermeister, deutschstämmig und
mit einer Rumänin verheiratet, gelernter Physiker und allseits als eine Art
Wundertier an Führungskraft und Effizienz gepriesen, lenkte einen dicken
Strom von Auslandskapital in die Stadt. Im neuen Gewerbegebiet im Osten sind
Grund und Boden nahezu ausverkauft, haben sich dutzende Westfirmen, darunter
Leitkonzerne wie Continental und Siemens, Voestalpine und ThyssenKrupp,
niedergelassen. Parallel wurde die städtische Infrastruktur auf Vordermann
gebracht, bekam die Altstadt ein umfassendes Facelifting verpasst.
Gesamtinvestitionen: gut 100 Millionen Euro. Jahrelang war Sibiu eine
einzige Großbaustelle. Nun strahlt es. Das kommunale Haushaltsvolumen hat
sich binnen sechs Jahren verfünffacht. Die Arbeitslosigkeit liegt bei knapp
drei Prozent.
Und eine weitere gute
Nachricht: Das Wirtschaftswunder hat die Butzenscheiben-Idylle des
mittelalterlichen Stadtkerns nicht beschädigt. Es gibt weder Porno- noch
Fastfood-Shops, dafür jede Menge Buch- und Antiquitätenläden, Galerien –
auch für Gegenwartskunst –
und für die 30.000 ansässigen Studenten bis frühmorgens belebte Cafés und
Szenebeisln. Auf den geschnitzten Torbögen der alten Bürgerhäuser mit den
kirschroten Ziegeldächern und mandelförmigen Gaubenfenstern wächst wilder
Wein. Hermannstadt ist aus seinem touristischen Dornröschenschlaf erwacht.
Für 2007 rechnet es mit bis zu 500.000 zusätzlichen Gästen, doppelt so
vielen wie sonst. Noch heuer will die Unesco entscheiden, ob sie die hundert
Hektar große City zum Weltkulturerbe erklärt. Dennoch, zeigt sich Gabriel
Rosca, der junge Präsident der örtlichen Architektenkammer, zufrieden, droht
keine Musealisierung.
"Die Immobilien-Preise sind zwar bereits gestiegen,
doch die soziale Vielfalt ist bis auf weiteres ungefährdet."
Symbolisches Kapital
Dracula, Pferdekarren und
Plattenbauten, Securitate-Seilschaften und Straßenkinder ... Die alten
Klischees kleben den Rumänen wie Kaugummi an den Sohlen und werden sich wohl
nur langsam auflösen. Auch in Sibiu ist die vordergründig so fotogene
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, sind die krassen sozialen Gegensätze
noch offensichtlich. Dennoch stellt die Stadt für das frischgebackene
EU-Mitgliedsland eine Ausnahme und ein Versprechen dar. Modernität und
Multikulturalität: Wofür Hermannstadt alias Sibiu alias Nagyszeben als ein
Zentrum an der Peripherie des Habsburgerreiches zur Blüte der Aufklärung im
späten 18. Jahrhundert stand (siehe Kasten), symbolisiert es in gewissem
Sinne auch wieder 2007. Allein daraus, dass seine Ortstafeln, wie überall in
Siebenbürgen, selbstverständlich mehrsprachig beschriftet sind, ließe sich
anderswo viel lernen. Wegweisender jedoch ist etwa die Tatsache, dass die
170.000 Hermannstädter, obwohl zu 95% rumänisch, bei der letzten Wahl ihren
deutschstämmigen Bürgermeister mit 88,7% im Amt bestätigten und so der
Korruption und erhabenen Großmäuligkeit der alten Apparatschiks eine
definitive Absage erteilten. Politisches Vertrauen über ethnische Grenzen
hinweg: ein beispielhafter Vorgang im Südosten Europas, der, fernab aller
k.u.k.-Seligkeit oder Deutschtümelei, das immaterielle Erbe einer
800jährigen Stadtgeschichte der Toleranz widerspiegelt; der neue
Perspektiven für ein politisch korrektes Verhältnis zwischen Mehr- und
Minderheiten nicht nur in Rumänien aufzeigt. Und der eigentlich auch die
Zustimmung der skeptischen Alteuropäer zur jüngsten Erweiterungsrunde
erhöhen sollte. Wie meinte der für die Koordination des Kulturprogramms im
Festjahr Hauptverantwortliche, Cristian Radu? "2007
feiern wir eigentlich nur die Geburt einer Kulturhauptstadt. Entscheidend
für ihre Wiedereingliederung in Europa wird sein, wie es danach weitergeht." |