Die
Mythen vom reinen Kind und vom edlen Wilden sind stark. Allzu verlockend ist
die Vorstellung, wir "armen Kulturmenschen" müssten nur allen
Zivilisationsschutt aus unseren Köpfen und Herzen kippen, um zu jener
erfüllenden Ursprünglichkeit und beglückenden Unmittelbarkeit
zurückzufinden, die es angeblich einmal gegeben hat. Große Mythen machen
bekanntlich vor keinem Lebensbereich Halt, auch nicht vor der Lesepädagogik.
Allzu verlockend ist die Vorstellung, das Vergnügen am Lesen beruhe auf
einem Einswerden von Romanheldin und Leserin, auf der Verschmelzung von
Kunst und Leben. Dieser Zugang zur Literatur ist meist nur für Kinder im
vorpubertären Alter möglich und für Menschen, die sich um den Preis ihrer
geistigen Weiterentwicklung lebenslänglich in jenem Urzustand der Naivität
halten können, in dem wir ein berührendes Ach hinseufzen, wenn die
tugendreiche Kammerzofe Agathe den jungen Graf Humbert von
Waldstatt-Rittersau endlich den Ihren nennen darf.
Die Pubertät ist in direktem Zusammenhang mit der Erbsünde zu sehen. Sie
reißt uns aus dem Zustande der geistigen Unschuld heraus und positioniert
uns (auch als Leser) jenseits von Eden. Da fließen Milch und Honig nicht
mehr wie von selbst. Da wird uns die Welt fremd und die Kindheitsfreude
schal. Das ist das Alter, ab dem uns der leib-seelische Gesamtzustand zur
Reflexion herausfordert. Lassen wir uns auf diese Herausforderung zum
Erwachsenwerden ein, dann können wir zu Subjekten im Sinne der Aufklärung
werden. Verweigern wir uns dieser Herausforderung, dann regredieren wir
bewusstseinslos vor uns hin und passen – ganz nach Disposition
–
in trivialesoterische Wochenendseminare, freiheitliche Zeltfeste oder ins
Taxi orange
–
blöd, aber glücklich.
Wer
meint, er könne auf der Basis der Reflexionsverweigerung zum begeisterten
Leser werden, weil doch die Poesie etwas Emotionales ist, der schrammt
garantiert an der interessantesten Literatur vorbei, liest entweder dauernd
Botschaften, die nirgendwo stehen (außer im eigenen Herzen) oder legt
ermüdet das Buch beiseite. Die sinnreiche Beschäftigung mit so genannter
schöner Literatur ist eine Denkarbeit. Daher trete ich auch mit aller
Entschiedenheit jenen Spontaneitätspredigern entgegen, deren Lebensinhalt
darin besteht, die wissenschaftliche Philologie und eine auf ihr beruhende
Lesepädagogik zu diffamieren, weil diese angeblich Trockenheit und
"Verkopfung" (was für ein Wort!) verbreite, wo sonst das erfüllende Leben
als solches erblühen könnte.
Natürlich kann und soll
nicht jeder Leser Philologe sein. Aber eine Volksausgabe philologischer
Methodik sollten die Schulen ihren Absolventen allemal mit ins Leben geben.
Wozu sind die Deutschlehrerinnen und -lehrer sonst gut? Spontan und
unmittelbar können wir auch ohne den großen Meister hinter dem Katheder
sein. Methodisches Denken als Voraussetzung für verstehendes Lesen stellt
sich aber nicht von selbst ein. Dazu bedarf es einer fachkundigen Anleitung.
Ich
will konkret werden. Als Beispiel diene ein mäßig attraktiver Text eines
sehr attraktiven Autors, Heinrich von Kleists "Anekdote aus dem letzten
preußischen Kriege".
In einem bei Jena liegenden
Dorf, erzählte mir, auf einer Reise nach Frankfurt, der Gastwirt, daß
sich mehrere Stunden nach der Schlacht, um die Zeit, da das Dorf schon
ganz von der Armee des Prinzen von Hohenlohe verlassen und von
Franzosen, die es für besetzt gehalten, umringt gewesen wäre, ein
einzelner preußischer Reiter darin gezeigt hätte; und versicherte mir,
daß wenn alle Soldaten, die an diesem Tage mitgefochten, so tapfer
gewesen wären, wie dieser, die Franzosen hätten geschlagen werden
müssen, wären sie auch noch dreimal stärker gewesen, als sie in der Tat
waren. Dieser Kerl, sprach der Wirt, sprengte, ganz von Staub bedeckt,
vor meinen Gasthof, und rief: "Herr Wirt!" und da ich frage: was gibt’s?
"ein Glas Branntewein!" antwortet er, indem er sein Schwert in die
Scheide wirft: "mich dürstet." Gott im Himmel! sag ich: will er machen,
Freund, daß er wegkömmt? Die Franzosen sind ja dicht vor dem Dorf! "Ei,
was!" spricht er, indem er dem Pferde den Zügel über den Hals legt. "Ich
habe den ganzen Tag nichts genossen!" Nun er ist, glaub ich, vom Satan
besessen -! He! Liese! rief ich, und schaff ihm eine Flasche Danziger
herbei, und sage: da! und will ihm die ganze Flasche in die Hand
drücken, damit er nur reite. "Ach, was!" spricht er, indem er die
Flasche wegstößt, und sich den Hut abnimmt: "wo soll ich mit dem Quark
hin?" Und: "schenk er ein!" spricht er, indem er sich den Schweiß von
der Stirn abtrocknet: "denn ich habe keine Zeit!" Nun er ist ein Kind
des Todes, sag ich. Da! sag ich, und schenk ihm ein; da! trink er und
reit er! Wohl mags ihm bekommen: "Noch eins!" spricht der Kerl; während
die Schüsse schon von allen Seiten ins Dorf prasseln. Ich sage: noch
eins? Plagt ihn -! "Noch eins!" spricht er, und streckt mir das Glas hin
– "Und gut gemessen", spricht er, indem er sich den Bart wischt, und
sich vom Pferde herab schneuzt: "denn es wird bar bezahlt!" Ei, mein
Seel, so wollt ich doch, daß ihn -! Da! sag ich, und schenk ihm noch,
wie er verlangt, ein zweites, und schenk ihm, da er getrunken, noch ein
drittes ein, und frage: ist er nun zufrieden? "Ach!" -schüttelt sich der
Kerl. "Der Schnaps ist gut! - Na!" spricht er, und setzt sich den Hut
auf: "was bin ich schuldig?" Nichts! nichts! versetz ich. Pack er sich,
in Teufelsnamen; die Franzosen ziehen augenblicklich ins Dorf! "Na!"
sagt er, indem er in seinen Stiefel greift: "so solls ihm Gott lohnen",
und holt, aus dem Stiefel, einen Pfeifenstummel hervor, und spricht,
nachdem er den Kopf ausgeblasen: "schaff er mir Feuer!" Feuer? sag ich:
plagt ihn-? "Feuer, ja!" spricht er: "denn ich
will mir eine Pfeife Tabak anmachen." Ei, den Kerl reiten Legionen -!
He, Liese, ruf ich das Mädchen! und während der Kerl sich die Pfeife
stopft, schafft das Mensch ihm Feuer. "Na!" sagt der Kerl, die Pfeife,
die er sich angeschmaucht, im Maul: "nun sollen doch die Franzosen die
Schwerenot kriegen!" Und damit, indem er sich den Hut in die Augen
drückt, und zum Zügel greift, wendet er das Pferd und zieht von Leder.
Ein Mordkerl! sag ich; ein verfluchter, verwetterter Galgenstrick! Will
er sich ins Henkers Namen scheren, wo er hingehört! Drei Chasseurs
-sieht er nicht – halten ja schon vor dem Tor? "Ei was!" spricht er,
indem er ausspuckt; und faßt die drei Kerls blitzend ins Auge. "Wenn
ihrer zehen wären, ich fürcht mich nicht." Und in dem Augenblick reiten
auch die drei Franzosen schon ins Dorf. "Bassa Manelka!" ruft der Kerl,
und gibt seinem Pferde die Sporen und sprengt auf sie ein; sprengt, so
wahr Gott lebt, auf sie ein, und greift sie; als ob er das ganze
Hohenlohische Korps hinter sich hätte, an; dergestalt, daß, da die
Chasseurs, ungewiß, ob nicht noch mehr Deutsche im Dorf sein mögen,
einen Augenblick, wider ihre Gewohnheit, stutzen, er, mein Seel, ehe man
noch eine Hand umkehrt, alle drei vom Sattel haut, die Pferde. die auf
dem Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und:
"Bassa Teremtetem!" ruft, und: "Sieht er wohl, Herr Wirt!" und "Adies!"
und "auf Wiedersehn!" und: "hoho! hoho! hoho!" -
So einen Kerl, sprach der Wirt, habe ich zeit meines Lebens nicht
gesehen.
Nehmen wir an, dieser Text
würde naiv und mit jener einfühlenden Haltung gelesen, deren Grundlage die
Identifikation mit dem Helden ist. Wozu taugte dann Kleists Anekdote noch?
Sie taugte zum seelischen Kräftigungsmittel für die Buberlpartien unseres
politisch verwahrlosten Landes. Sie könnten sich an diesem preußischen
Haudegen aufbauen, bevor sie in Bräunungsstudios ihre Muskeln spielen oder
in nicht weniger braunen Bierzelten ihre beherzten Ausritte gegen alles
Fremde und Ungewohnte machen.
Mit heilbringender Nüchternheit hingegen
begegnet der geistig erwachsene Leser dieser historisch gewordenen
Seltsamkeit aus dem Jahr 1810. Die förderlichen Haltungen der
Auseinandersetzung sind hier (wie so oft): Distanz, Genauigkeit, ästhetische
Kompetenz, Bildungswissen. Wie äußern sich derlei Tugenden im Umgang mit
diesem Stück Literatur?
Wer
sich (auch als Laie) ernsthaft mit Literatur beschäftigt, darf nicht nur die
Frage stellen
Was
wird mir erzählt?, sondern muss auch fragen:
Wie wird es mir erzählt? Ich
persönlich lehne zum Beispiel völlig ab, was uns Kleist hier erzählt, aber
ich bewundere die Professionalität seiner Erzählverfahrens und seiner
Sprache. Schon über die Syntax des ersten Satzes gerate ich in Verzückung.
Wer sich der schönen Anstrengung unterzieht, die Struktur dieses
syntaktischen Gebildes zu analysieren, für den oder die wird sich ein
filigranes Sprachkunstwerk aus Unterbrechung und Wiederaufnahme auftun. Als
ich einmal vor einer Schulklasse diese Satzstruktur in einer Textpartitur
visualisierte und anmerkte, solch eine Analyse sei für mich ein erotisches
Erlebnis, meinte eine Schülerin: Das ist aber schon eine schwere Form der
Perversion! – Gewiss, aber das macht die Analyse eines Kleistschen Satzes
nicht weniger reizvoll. Ganz im Gegenteil! Auch Kleists Umgang mit
Erzählperspektiven und Darstellungsformen überzeugt mich völlig. Das
Autoren-Ich gibt nach einer knappen Einleitung seiner Ezählerrolle an den
Augenzeugen ab, den Wirt, der im Stil von Brechts epischem Theater in
halbdramatischer Form das Geschehen vergegenwärtigt, teils in die Rolle des
Helden schlüpft, teils seinen eigenen Gesprächsbeitrag zitiert und so eine
knappe, dichte Skizze des Vorfalls zu Stande bringt.
Immer wieder lese ich (vor
allem in gut gemeinten pädagogischen Publikationen) den abgrundtief dummen
Satz, dass die formale Analyse eines Kunstwerks dieses zerstöre. Quatsch!
Erstens ist die Bewusstmachung von Form und Sprache manchmal die
Voraussetzung des Verstehens, zweitens ist sie die Bedingung jeder seriösen
Literaturkritik, und drittens ermöglicht sie ein ästhetisches Erkennen, das
uns jene Bewunderung ermöglicht, die der große Künstler verdient. Und Kleist
war solch ein großer Künstler.
Wenig
Bewunderung hege ich freilich für die Botschaft der "Anekdote aus dem
letzten preußischen Kriege". Was für ein Klischeeheld da konstruiert wird!
Ein so genannter "Kerl", in derselben machistischen Kuchenform gebacken wie
Rambo, also ein starker Einzelkämpfer, unerschrocken und siegreich. Ich will
aber nicht nur meiner Abneigung freien Lauf lassen,
sondern eine methodische Heldendekonstruktion vornehmen. Nicht genug damit,
dass der namenlose Kerl drei zaudernde Franzosen aus dem Sattel haut, nein,
er muss natürlich auch noch die standardisierten Begleiter des echten Mannes
zu sich nehmen: Tabak und Branntwein. Man stelle sich vor, der Kerl verlange
Wasser und einen kohlehydratreichen Imbiss, was ja vom Standpunkt der
militärischen Fitness zuträglicher wäre als Pfeifentabak und Schnaps. Aber
mit Kartoffelauflauf und Leitungswasser ist eben kein Männermythos zu
errichten. Das ist auch bei anderen Autoren nachweisbar.
Man vergleiche mit Kleists
"Kerl" Carl Zuckmayers General Harras, der sich vorwiegend von Zigarre und
Cognac ernährt, aber auch der junge Brecht war nicht frei von derlei
Inszenierungen des Männlichen, berichtet er uns doch im berühmten Gedicht
"Vom armen B.B.", dieser sei versehen mit "Tabak und Branntwein", trinke in
der Früh sein Glas aus und hoffe, dass er bei den Erdbeben, die kommen
werden, seine Virginier nicht ausgehen lasse vor Bitterkeit. Die dritte
Kraft in der Dreifaltigkeit des Machismo ist – neben Tabak und
Branntwein – der beiläufige Gebrauch von Frauen, die zwar genommen, aber
nicht mitgenommen werden. Der Fliegergeneral Harras lebt uns diese
bezaubernde Seite des Mannes ebenso genussreich vor wie der Genosse Brecht:
In meine leeren Schaukelstühle vormittags, da setz ich mir mitunter ein paar
Frauen, heißt es. Tja, so ist das eben bei uns Kerls. Kämen die schlappen
Franzosen ein wenig später ins Dörfchen nahe Jena geritten, ich wette, der
Kleistsche Kerl würde auch noch die gute Liese beglücken, die ja in der
Anekdote eine undankbare Rolle hat, weil sie dem Kerl zwei Attribute der
Männlichkeit reichen darf, aber auf des Kerls Hauptattribut, seinen
zweifellos emsigen Schniedl, keinen Anspruch erheben kann. Das erst machte
aber das Kerl-Bild rund, wenn er Lieses sehnsüchtigen Stutenblick aufnehmen
würde und – den Franzosen zurufend: wartet noch drei Minuten, Kollegen, denn
hier wird rasch noch naturaliter bezahlt – sein Gemächt hervorholte, um es
der verzückten Liese zu besorgen. Soweit zum Thema "Des Lesers Distanz zur
Hauptfigur".
So,
und jetzt noch ein bisschen was von jenem historischen Bildungswissen, das
in den ach so fortgeschrittenen Bildungsdiskursen der Gegenwart gern zum
"Ballast" erklärt wird. Im gegeben Fall scheint der Ballast, der uns am
geistigen Aufstieg hindern könnte, freilich eher das Unwissen zu sein als
das Wissen. Kleists "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege" erschien
in den "Berliner Abendblättern" (1810). Die Bezugnahme auf Jena hat sehr
reale Hintergründe. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am
14.Oktober 1806 erlitt Preußen eine vernichtende Niederlage im Kampf gegen
die napoleonischen Truppen. Als ein schwaches Jahr später auch Russland
besiegt wurde, war der europäische Kontinent fest in französischer Hand. Nur
zögerlich besann man sich in Preußen auf den Wiederaufbau des Landes zur
Großmacht. 1809 wurde Napoleon erstmals in einer Landschlacht besiegt,
bekanntlich von "unserem" tüchtigen Erzherzog Karl (Schlacht bei Aspern).
Napoleon blieb zwar vorläufig noch auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber der
Mythos der Unbesiegbarkeit verblasste. In dieser Zeit publizierte Kleist
seine fragwürdige Anekdote, diesen ideologischen Ausdruck eines schwer
beschädigten preußischen Selbstbewusstseins, das in machistischen Posen die
Niederlagen seiner großen Männer kompensierte und daraus die Hoffnung bezog,
den großen Kaiser Napoleon eines Tages doch noch auf jenes Maß zurückstutzen
zu können, das seiner Körpergröße angemessen schien. |