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O selige Distanz, o erfüllende Verkopfung

Eine kleine Einführung ins große Leseglück

Wer sich ernsthaft mit der Literatur beschäftigt, muss sich Form und Sprache
des literarischen Kunstwerks ebenso bewusst machen wie seinen Inhalt.
 
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V
on Christian Schacherreiter
(01. 11. 2000)

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Dr. Christian
Schacherreiter

c.schacherreiter [at]
pi-linz.ac.at

geb. 1954 in Linz, Studium
der Germanistik und Geschichte
in Salzburg, unterrichtet Deutsch
am BORG Linz, Literatur an der
Pädagogischen Akademie der
Diözese Linz, Mitarbeiter des
Pädagogischen Instituts und
des Stifter-Instituts, zahlreiche
Publikationen zur Literatur,
Sprache und Bildung in
Zeitungen, Zeitschriften

und im ORF.

 

 

 

Beschäftigung mit der
Literatur ist Denkarbeit

 

 

 

 

 

 


Etwas Philologie tut
jedem Leser gut

 

 

 

 

 

 

 

Kleists "Anekdote aus dem
letzten preußischen Kriege"
als Beispiel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Sich mit dem Helden
Kleists identifizieren?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Distanz, Genauigkeit, ästhetische Kompetenz und Bildungswissen sind
Tugenden des
"erwachsenen" Lesers

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Man soll sich nicht nur
fragen, was erzählt wird,
sondern auch, wie etwas
erzählt wird

 

 

 

 

 

 

 

 


Die formale Analyse
zerstört das Kunstwerk nicht!

 

 

 

 

 

 

 

 


Die inhaltliche Abneigung
gegen Kleists Text

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Attribute echter Kerle:
Schnaps, Tabak und Weiber
 

 

 

 

 

 

 

 

  

Das historische
Bildungswissen hilft mit,
ein Kunstwerk zu verstehen

   Die Mythen vom reinen Kind und vom edlen Wilden sind stark. Allzu verlockend ist die Vorstellung, wir "armen Kulturmenschen" müssten nur allen Zivilisationsschutt aus unseren Köpfen und Herzen kippen, um zu jener erfüllenden Ursprünglichkeit und beglückenden Unmittelbarkeit zurückzufinden, die es angeblich einmal gegeben hat. Große Mythen machen bekanntlich vor keinem Lebensbereich Halt, auch nicht vor der Lesepädagogik. Allzu verlockend ist die Vorstellung, das Vergnügen am Lesen beruhe auf einem Einswerden von Romanheldin und Leserin, auf der Verschmelzung von Kunst und Leben. Dieser Zugang zur Literatur ist meist nur für Kinder im vorpubertären Alter möglich und für Menschen, die sich um den Preis ihrer geistigen Weiterentwicklung lebenslänglich in jenem Urzustand der Naivität halten können, in dem wir ein berührendes Ach hinseufzen, wenn die tugendreiche Kammerzofe Agathe den jungen Graf Humbert von Waldstatt-Rittersau endlich den Ihren nennen darf.

Die Pubertät ist in direktem Zusammenhang mit der Erbsünde zu sehen. Sie reißt uns aus dem Zustande der geistigen Unschuld heraus und positioniert uns (auch als Leser) jenseits von Eden. Da fließen Milch und Honig nicht mehr wie von selbst. Da wird uns die Welt fremd und die Kindheitsfreude schal. Das ist das Alter, ab dem uns der leib-seelische Gesamtzustand zur Reflexion herausfordert. Lassen wir uns auf diese Herausforderung zum Erwachsenwerden ein, dann können wir zu Subjekten im Sinne der Aufklärung werden. Verweigern wir uns dieser Herausforderung, dann regredieren wir bewusstseinslos vor uns hin und passen – ganz nach Disposition
in trivialesoterische Wochenendseminare, freiheitliche Zeltfeste oder ins Taxi orange blöd, aber glücklich.

   Wer meint, er könne auf der Basis der Reflexionsverweigerung zum begeisterten Leser werden, weil doch die Poesie etwas Emotionales ist, der schrammt garantiert an der interessantesten Literatur vorbei, liest entweder dauernd Botschaften, die nirgendwo stehen (außer im eigenen Herzen) oder legt ermüdet das Buch beiseite. Die sinnreiche Beschäftigung mit so genannter schöner Literatur ist eine Denkarbeit. Daher trete ich auch mit aller Entschiedenheit jenen Spontaneitätspredigern entgegen, deren Lebensinhalt darin besteht, die wissenschaftliche Philologie und eine auf ihr beruhende Lesepädagogik zu diffamieren, weil diese angeblich Trockenheit und "Verkopfung" (was für ein Wort!) verbreite, wo sonst das erfüllende Leben als solches erblühen könnte.

Natürlich kann und soll nicht jeder Leser Philologe sein. Aber eine Volksausgabe philologischer Methodik sollten die Schulen ihren Absolventen allemal mit ins Leben geben. Wozu sind die Deutschlehrerinnen und -lehrer sonst gut? Spontan und unmittelbar können wir auch ohne den großen Meister hinter dem Katheder sein. Methodisches Denken als Voraussetzung für verstehendes Lesen stellt sich aber nicht von selbst ein. Dazu bedarf es einer fachkundigen Anleitung.

   Ich will konkret werden. Als Beispiel diene ein mäßig attraktiver Text eines sehr attraktiven Autors, Heinrich von Kleists "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege".

In einem bei Jena liegenden Dorf, erzählte mir, auf einer Reise nach Frankfurt, der Gastwirt, daß sich mehrere Stunden nach der Schlacht, um die Zeit, da das Dorf schon ganz von der Armee des Prinzen von Hohenlohe verlassen und von Franzosen, die es für besetzt gehalten, umringt gewesen wäre, ein einzelner preußischer Reiter darin gezeigt hätte; und versicherte mir, daß wenn alle Soldaten, die an diesem Tage mitgefochten, so tapfer gewesen wären, wie dieser, die Franzosen hätten geschlagen werden müssen, wären sie auch noch dreimal stärker gewesen, als sie in der Tat waren. Dieser Kerl, sprach der Wirt, sprengte, ganz von Staub bedeckt, vor meinen Gasthof, und rief: "Herr Wirt!" und da ich frage: was gibt’s? "ein Glas Branntewein!" antwortet er, indem er sein Schwert in die Scheide wirft: "mich dürstet." Gott im Himmel! sag ich: will er machen, Freund, daß er wegkömmt? Die Franzosen sind ja dicht vor dem Dorf! "Ei, was!" spricht er, indem er dem Pferde den Zügel über den Hals legt. "Ich habe den ganzen Tag nichts genossen!" Nun er ist, glaub ich, vom Satan besessen -! He! Liese! rief ich, und schaff ihm eine Flasche Danziger herbei, und sage: da! und will ihm die ganze Flasche in die Hand drücken, damit er nur reite. "Ach, was!" spricht er, indem er die Flasche wegstößt, und sich den Hut abnimmt: "wo soll ich mit dem Quark hin?" Und: "schenk er ein!" spricht er, indem er sich den Schweiß von der Stirn abtrocknet: "denn ich habe keine Zeit!" Nun er ist ein Kind des Todes, sag ich. Da! sag ich, und schenk ihm ein; da! trink er und reit er! Wohl mags ihm bekommen: "Noch eins!" spricht der Kerl; während die Schüsse schon von allen Seiten ins Dorf prasseln. Ich sage: noch eins? Plagt ihn -! "Noch eins!" spricht er, und streckt mir das Glas hin – "Und gut gemessen", spricht er, indem er sich den Bart wischt, und sich vom Pferde herab schneuzt: "denn es wird bar bezahlt!" Ei, mein Seel, so wollt ich doch, daß ihn -! Da! sag ich, und schenk ihm noch, wie er verlangt, ein zweites, und schenk ihm, da er getrunken, noch ein drittes ein, und frage: ist er nun zufrieden? "Ach!" -schüttelt sich der Kerl. "Der Schnaps ist gut! - Na!" spricht er, und setzt sich den Hut auf: "was bin ich schuldig?" Nichts! nichts! versetz ich. Pack er sich, in Teufelsnamen; die Franzosen ziehen augenblicklich ins Dorf! "Na!" sagt er, indem er in seinen Stiefel greift: "so solls ihm Gott lohnen", und holt, aus dem Stiefel, einen Pfeifenstummel hervor, und spricht, nachdem er den Kopf ausgeblasen: "schaff er mir Feuer!" Feuer? sag ich: plagt ihn-? "Feuer, ja!" spricht er: "denn ich will mir eine Pfeife Tabak anmachen." Ei, den Kerl reiten Legionen -! He, Liese, ruf ich das Mädchen! und während der Kerl sich die Pfeife stopft, schafft das Mensch ihm Feuer. "Na!" sagt der Kerl, die Pfeife, die er sich angeschmaucht, im Maul: "nun sollen doch die Franzosen die Schwerenot kriegen!" Und damit, indem er sich den Hut in die Augen drückt, und zum Zügel greift, wendet er das Pferd und zieht von Leder. Ein Mordkerl! sag ich; ein verfluchter, verwetterter Galgenstrick! Will er sich ins Henkers Namen scheren, wo er hingehört! Drei Chasseurs -sieht er nicht – halten ja schon vor dem Tor? "Ei was!" spricht er, indem er ausspuckt; und faßt die drei Kerls blitzend ins Auge. "Wenn ihrer zehen wären, ich fürcht mich nicht." Und in dem Augenblick reiten auch die drei Franzosen schon ins Dorf. "Bassa Manelka!" ruft der Kerl, und gibt seinem Pferde die Sporen und sprengt auf sie ein; sprengt, so wahr Gott lebt, auf sie ein, und greift sie; als ob er das ganze Hohenlohische Korps hinter sich hätte, an; dergestalt, daß, da die Chasseurs, ungewiß, ob nicht noch mehr Deutsche im Dorf sein mögen, einen Augenblick, wider ihre Gewohnheit, stutzen, er, mein Seel, ehe man noch eine Hand umkehrt, alle drei vom Sattel haut, die Pferde. die auf dem Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und: "Bassa Teremtetem!" ruft, und: "Sieht er wohl, Herr Wirt!" und "Adies!" und "auf Wiedersehn!" und: "hoho! hoho! hoho!" - So einen Kerl, sprach der Wirt, habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen.

   Nehmen wir an, dieser Text würde naiv und mit jener einfühlenden Haltung gelesen, deren Grundlage die Identifikation mit dem Helden ist. Wozu taugte dann Kleists Anekdote noch? Sie taugte zum seelischen Kräftigungsmittel für die Buberlpartien unseres politisch verwahrlosten Landes. Sie könnten sich an diesem preußischen Haudegen aufbauen, bevor sie in Bräunungsstudios ihre Muskeln spielen oder in nicht weniger braunen Bierzelten ihre beherzten Ausritte gegen alles Fremde und Ungewohnte machen.

Mit heilbringender Nüchternheit hingegen begegnet der geistig erwachsene Leser dieser historisch gewordenen Seltsamkeit aus dem Jahr 1810. Die förderlichen Haltungen der Auseinandersetzung sind hier (wie so oft): Distanz, Genauigkeit, ästhetische Kompetenz, Bildungswissen. Wie äußern sich derlei Tugenden im Umgang mit diesem Stück Literatur?

   Wer sich (auch als Laie) ernsthaft mit Literatur beschäftigt, darf nicht nur die Frage stellen Was wird mir erzählt?, sondern muss auch fragen: Wie wird es mir erzählt? Ich persönlich lehne zum Beispiel völlig ab, was uns Kleist hier erzählt, aber ich bewundere die Professionalität seiner Erzählverfahrens und seiner Sprache. Schon über die Syntax des ersten Satzes gerate ich in Verzückung. Wer sich der schönen Anstrengung unterzieht, die Struktur dieses syntaktischen Gebildes zu analysieren, für den oder die wird sich ein filigranes Sprachkunstwerk aus Unterbrechung und Wiederaufnahme auftun. Als ich einmal vor einer Schulklasse diese Satzstruktur in einer Textpartitur visualisierte und anmerkte, solch eine Analyse sei für mich ein erotisches Erlebnis, meinte eine Schülerin: Das ist aber schon eine schwere Form der Perversion! – Gewiss, aber das macht die Analyse eines Kleistschen Satzes nicht weniger reizvoll. Ganz im Gegenteil! Auch Kleists Umgang mit Erzählperspektiven und Darstellungsformen überzeugt mich völlig. Das Autoren-Ich gibt nach einer knappen Einleitung seiner Ezählerrolle an den Augenzeugen ab, den Wirt, der im Stil von Brechts epischem Theater in halbdramatischer Form das Geschehen vergegenwärtigt, teils in die Rolle des Helden schlüpft, teils seinen eigenen Gesprächsbeitrag zitiert und so eine knappe, dichte Skizze des Vorfalls zu Stande bringt.

Immer wieder lese ich (vor allem in gut gemeinten pädagogischen Publikationen) den abgrundtief dummen Satz, dass die formale Analyse eines Kunstwerks dieses zerstöre. Quatsch! Erstens ist die Bewusstmachung von Form und Sprache manchmal die Voraussetzung des Verstehens, zweitens ist sie die Bedingung jeder seriösen Literaturkritik, und drittens ermöglicht sie ein ästhetisches Erkennen, das uns jene Bewunderung ermöglicht, die der große Künstler verdient. Und Kleist war solch ein großer Künstler.

   Wenig Bewunderung hege ich freilich für die Botschaft der "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege". Was für ein Klischeeheld da konstruiert wird! Ein so genannter "Kerl", in derselben machistischen Kuchenform gebacken wie Rambo, also ein starker Einzelkämpfer, unerschrocken und siegreich. Ich will aber nicht nur meiner Abneigung freien Lauf lassen, sondern eine methodische Heldendekonstruktion vornehmen. Nicht genug damit, dass der namenlose Kerl drei zaudernde Franzosen aus dem Sattel haut, nein, er muss natürlich auch noch die standardisierten Begleiter des echten Mannes zu sich nehmen: Tabak und Branntwein. Man stelle sich vor, der Kerl verlange Wasser und einen kohlehydratreichen Imbiss, was ja vom Standpunkt der militärischen Fitness zuträglicher wäre als Pfeifentabak und Schnaps. Aber mit Kartoffelauflauf und Leitungswasser ist eben kein Männermythos zu errichten. Das ist auch bei anderen Autoren nachweisbar.

Man vergleiche mit Kleists "Kerl" Carl Zuckmayers General Harras, der sich vorwiegend von Zigarre und Cognac ernährt, aber auch der junge Brecht war nicht frei von derlei Inszenierungen des Männlichen, berichtet er uns doch im berühmten Gedicht "Vom armen B.B.", dieser sei versehen mit "Tabak und Branntwein", trinke in der Früh sein Glas aus und hoffe, dass er bei den Erdbeben, die kommen werden, seine Virginier nicht ausgehen lasse vor Bitterkeit. Die dritte Kraft in der Dreifaltigkeit des Machismo ist –  neben Tabak und Branntwein – der beiläufige Gebrauch von Frauen, die zwar genommen, aber nicht mitgenommen werden. Der Fliegergeneral Harras lebt uns diese bezaubernde Seite des Mannes ebenso genussreich vor wie der Genosse Brecht: In meine leeren Schaukelstühle vormittags, da setz ich mir mitunter ein paar Frauen, heißt es. Tja, so ist das eben bei uns Kerls. Kämen die schlappen Franzosen ein wenig später ins Dörfchen nahe Jena geritten, ich wette, der Kleistsche Kerl würde auch noch die gute Liese beglücken, die ja in der Anekdote eine undankbare Rolle hat, weil sie dem Kerl zwei Attribute der Männlichkeit reichen darf, aber auf des Kerls Hauptattribut, seinen zweifellos emsigen Schniedl, keinen Anspruch erheben kann. Das erst machte aber das Kerl-Bild rund, wenn er Lieses sehnsüchtigen Stutenblick aufnehmen würde und – den Franzosen zurufend: wartet noch drei Minuten, Kollegen, denn hier wird rasch noch naturaliter bezahlt – sein Gemächt hervorholte, um es der verzückten Liese zu besorgen. Soweit zum Thema "Des Lesers Distanz zur Hauptfigur".

   So, und jetzt noch ein bisschen was von jenem historischen Bildungswissen, das in den ach so fortgeschrittenen Bildungsdiskursen der Gegenwart gern zum "Ballast" erklärt wird. Im gegeben Fall scheint der Ballast, der uns am geistigen Aufstieg hindern könnte, freilich eher das Unwissen zu sein als das Wissen. Kleists "Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege" erschien in den "Berliner Abendblättern" (1810). Die Bezugnahme auf Jena hat sehr reale Hintergründe. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt am 14.Oktober 1806 erlitt Preußen eine vernichtende Niederlage im Kampf gegen die napoleonischen Truppen. Als ein schwaches Jahr später auch Russland besiegt wurde, war der europäische Kontinent fest in französischer Hand. Nur zögerlich besann man sich in Preußen auf den Wiederaufbau des Landes zur Großmacht. 1809 wurde Napoleon erstmals in einer Landschlacht besiegt, bekanntlich von "unserem" tüchtigen Erzherzog Karl (Schlacht bei Aspern). Napoleon blieb zwar vorläufig noch auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber der Mythos der Unbesiegbarkeit verblasste. In dieser Zeit publizierte Kleist seine fragwürdige Anekdote, diesen ideologischen Ausdruck eines schwer beschädigten preußischen Selbstbewusstseins, das in machistischen Posen die Niederlagen seiner großen Männer kompensierte und daraus die Hoffnung bezog, den großen Kaiser Napoleon eines Tages doch noch auf jenes Maß zurückstutzen zu können, das seiner Körpergröße angemessen schien.

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