Yukon Zauber
Sara und Joseph
Die großen Goldfunde entlang des Yukon Rivers und im Klondike, hatten um die Jahrhundertwende, 1896 bis 1900 tausende und aber tausende Menschen in den Norden Kanadas gebracht. Die Anziehungskraft dieses glänzenden Metalls war eine gewaltige, quer durch die Schichten der Bevölkerung, von Ärzten und Anwälten, von Bauern und Bankangestellten, bis hin zum armen Bettler am Straßenrand, alle, alle machten sich auf um ins geheiligte Land zu kommen. Verschiedene Wege konnte man einschlagen. Vom Norden, also von Alaska kommenden, den Yukon River mit einem Boot hinauf fahren, oder man nahm den Landweg, quer durch die Prärien über Edmonton nach Whitehorse und dann den Fluss hinunter. Die meistgenommene und befahrene Route war mit dem Schiff die Pazifik Küste hinauf und in den Lynn Channal bis Skagway Alaska. Von dort dann zu Fuß nach Dyea und über die steilen Berge hinein in den Yukon. Der weltberühmt gewordene Chilkoot Pass war auf dieser Route der härteste Test, den man überwinden musste. 53 km steilste Berghänge über einen unbefestigten, schmalen Pfad, durch schroffe Felsflanken und über ewiges Eis und Schnee. Proviant für ein ganzes Jahr musste mitgenommen werden, das man entweder mit den Pferden oder auf dem eigenen Rücken schleppen musste. Aus den Bergen hinaus zum Bennett Lake, das war dann schon einfacher. An diesem See wurden hunderte von Booten gebaut, mit denen ging es dann in Richtung Whitehorse, durch die Five Finger Rapids, hinunter bis nach Dawson City. Diese Strecke von ungefähr 880 Kilometern wurde in vielen Tagesetappen zurückgelegt. Ruderboote, und Flosse, schwerbeladen mit dem persönlichen Hab und Gut wurden den Fluss hinunter befördert. Dawson City war die damalige Hauptstadt des Yukon und zum Höhepunkt des Goldrausches lebten an die 30 000 Menschen in und um dieser Stadt. An allen kleinen Bächen und Zuflüssen wurde nach Gold gewaschen, wird auch heute noch danach gesucht.
Als im Jahre 1905 die junge Sara mit ihrem Mann Joseph in der kleinen Stadt Skagway am Meer ankam, da war der Rausch, der Rummel, der Wirbel um die mächtigen Goldfunde im Klondike schon etwas abgeflacht. Die Menschen hatten sich wieder verlaufen, andere Städte im Norden Alaskas, in Kalifornien und in British Columbia hatten von Goldfunden berichtet und jeder der irgendwie konnte, machte sich auf, diesem Ruf zu folgen. Joseph war jedoch einer gewesen, der dem ersten Goldrausch gefolgt war, er hatte seine Schürfrechte allerdings nicht direkt in den heißbegehrten Goldfeldern eingetragen, aber gemeinsam mit einem Freund, fand er am Henderson Creek, einem Nebenfluss des Stuart Rivers, eine sehr ertragreiche Quelle, die auch für eine weitere Zukunft vielversprechen d aussah. Bevor er sich seinerzeit auf den Weg in den Yukon machte, hatte er seine Jugendliebe Sara gebeten, auf ihn zu warten und sie würden umgehend heiraten, wenn er aus der Wildnis zurück käme. Das war vor drei Jahren gewesen, Sara lebte mit ihren Schwestern und Eltern in einem kleinen Dorf in Neufundland und wartete meist ungeduldig, dass endlich Nachricht von einem großen Fund und der Heimkehr Josephs kam. Im Sommer 1905 war es dann soweit, Joseph kam mit vielen Neuigkeiten und begeisterten Schilderungen von seinem abenteuerlichen Leben an diesem kleinen Fluss nach Neufundland zurück, wollte sofort heiraten und Sara mit in den Yukon nehmen. Die Eltern waren ganz und gar nicht begeistert. Sara, die Tochter des Schuldirektors, wohl erzogen, sehr gebildet, lebte behütet und beschützt in diesem Familienverband, aus diesem sollte sie nun herausgerissen werden und sich allein in rauer Männergesellschaft unter den primitivsten Bedingungen behaupten. Aber wo die Liebe hinfällt! Niemand konnte ihr dieses Unternehmen ausreden und bereits anfangs September waren sie auf den Weg nach Westen, denn man musste den Yukon River erreichen, bevor sich das Eis auf dem Fluss bildete. Mit der Bahn ging es quer durch Kanada bis Vancouver in British Columbia, dort bestieg man dann ein großes Dampfschiff und fuhr in den Norden nach Skagway Alaska. Um 1900 hatte man mit dem Bau einer Schmalspureisenbahn von Alaska nach Whitehorse begonnen und diese Strecke von hundertundzehn Meilen konnte das junge Ehepaar bereits gemütlich im Abteil sitzend zurück legen. Oftmals ging der Blick aus den Fenstern hinauf in die steilen Berge, wo sich der alte Pfad der ersten Goldgräber befand. Aber diese Strapazen waren ihnen erspart geblieben. Nach letzten Einkäufen ging es dann von Whitehorse wieder mit einem Dampfer den Yukon River hinunter in Richtung Dawson City. In diesen Jahren war der Fluss der Hauptverkehrsweg, über Land ging zwar ein alter Karrenweg, aber der Ausbau des berühmten Klondike Highway erfolgte erst viel, viel später. Endstation dieser langen und mühsamen Reise war auch nicht Dawson City, sondern der kleine Ort Stuart, der direkt an der Einmündung des gleichnamigen Flusses in den Yukon lag und nur über den Wasserweg erreichbar war. Hatte der Fluss genügend Wasser, so konnte das Schiff direkt im kleinen Hafen anlegen und seine Fracht und Passagiere an Land setzen, im Spätherbst, wenn das Wasser sehr niedrig wurde, dann musste ein kleines Ruderboot zur Hilfe genommen werden. Der Dampfer ankerte draußen in der Strömung und mit dem kleinen Boot wurden die Menschen und Frachtstücke ans Ufer gebracht. So war es auch Ende September, als Sara und Joseph in Stuart ankamen, schnell musste alles Gepäck und die Vorratskisten ins kleine Boot umgeladen werden, Freunde von Joseph standen am Ufer und nahmen alles in Empfang, zuletzt gingen dann die beiden jungen Menschen von Bord und wurden herzlich und mit Hurra empfangen. Die Ansiedlung selbst bestand aus einigen Blockhütten, einem Kaffee/Restaurant, einer kleinen Kirche und einem Gemischtwarenladen, so einem richtigen alten “Greiser” wie man in Österreich sagt, wo man vom Zwirn über Schuhcreme, Nägel und Hammer bis zum eingelegten Fisch und Sauerkraut, Kleidung und Bettwäsche, Hustensaft und Rheumasalbe alles, alles kaufen kann und was nicht vorrätig war, das wurde per Schiff bestellt und kam mit der nächsten Fracht angeliefert. Aber auch hier war für Sara noch nicht die Endstation der Reise. Josephs Goldclaim lag noch Zweitagesritte vom Ort entfernt in nordöstlicher Richtung, am Henderson Creek. Dort hatte er in den zwei Jahren die er mit seinem Freund hier Gold schürfte eine kleine Blockhütte am Bachufer erbaut und Sara sollte diese nun in ein gemütliches Zuhause verwandeln.
Noch nie in ihrem Leben war sie auf einem Pferd gesessen, hatte eine panische Angst vor diesen riesengroßen Tieren und nur das Gute Zureden von Joseph bracht sie auf den Rücken des Gaules. Mit weißen Knöcheln hielt sie die Zügel, total verkrampft, wie sollte das zwei Tage lang gut gehen? Der kalte Angstschweiß lief ihr den Rücken hinunter, aber da musste sie nun auch durch und es war gut, dass sie nicht wusste, was das Leben hier im Yukon noch alles für sie bereit hielt. Die Nacht verbrachten die beiden in einem kleinen Zelt, irgendwo am Trail und gegen Ende des nächsten Tages sah sie dann eine feine Rauchsäule aus einer einsamen Hütte aufsteigen. Wie weit denn noch, das war ihre ständige Frage, wenn sie das Sitzfleisch besonders schmerzte, noch ein Stücken, war die immer gleiche, geduldige Antwort ihres Ehemannes, ja und dann endlich waren sie doch am Ziel. Zwei kleine, wirklich unscheinbare Hütten standen am Ufer des Creeks. In der größeren wohnten zwei Freunde von Joseph, die sich mit ihm die Schürfrechte teilten, die kleiner sollte als zu Hause des jungen Ehepaares dienen. Es fehlte an allen Ecken und Enden an Einrichtungsgegenständen, nur ein alter Ofen und eine Holzpritsche, die als Bett diente war vorhanden. Tisch und Stühle mussten erst angefertigt werden, Regale wurden an die Wände genagelt und nahmen die Bekleidung und das Geschirr auf. Man kann sich heute kam vorstellen, wie einfach, ja primitiv, diese Menschen da draußen lebten. Es war ihnen nur wichtig, ein Dach über dem Kopf zu haben und einen Ofen, ohne Feuer, ohne Wärme war keine Leben möglich, das erkannte Sara auch bald. Jetzt, da endlich eine Frau im Lager war, da wurden ihr sogleich alle Hausarbeiten, wie kochen, abwaschen, und saubermachen übertragen. Die Männer wollten für das Feuerholz sorgen, aber ansonsten jede freie Stunde nach Gold graben. Die Blockhütte lag am Westhang einer Hügelkette im letzten Abendlicht, als Sara dort ankam. Der erste Schnee war gefallen und die untergehende Sonne verzauberte die Landschaft in eine glitzernde Märchenwelt. Stille, unheimliche Stille lag im Tal, und da erst merkte sie, wie einsam, wie isoliert sie nun wirklich leben würde und die große Frage tauchte auf, wie sie mit dieser Einsamkeit fertig werden würde. Am nächsten Tag kam ein Pferdegespann und brachte ihre Truhen und Kisten mit liebenswerten Dingen von zu Hause, von denen sie sich auf keinen Fall trennen wollte. Auch Stoffe für Vorhänge, Tischdecken und Betttücher waren darunter, sodass sie bald ein recht gemütliches Heim schaffen konnte. Das viele Kochen und Waschen ließen die Stunden nur so verfliegen und Langeweile kam keine auf.
Das Schürfen nach Gold in den Wintermonaten war eine recht mühsame Arbeit. Man hatte ein senkrechtes Loch in den Boden gegraben, die goldhaltige Erde wurde zur Seite geschaufelt und im Frühling dann unter fließendem Wasser ausgewaschen. Begann der Boden dann zu frieren, so wurde abends am Grund der Grube ein Holzfeuer entfacht, das die ganze Nacht über brannte. Zentimeter um Zentimeter des so aufgetauten Bodens wurde abgegraben und an die Seite gebracht. Auf diese Art ersparte man sich auch das Abstützen der Schachtwände, denn der starke Frost hielt die Erde fest zusammen und man musste keine Einbrüche befürchten. Knochenharte Arbeit war es, je tiefer man in die Erde eindrang, mit kleinen Leitern kletterten die Männer nach unten, das Erdreich wurde in Eimern nach oben gereicht. Tagein, tagaus, die gleichen Handgriffe, bis der Rücken steif und die Arme taub waren. Aber man hoffte auf gute Ausbeute und der Traum vom großen Fund, der “Motherload”, der Mutterladung, der wurde stets mitgeträumt, jedoch nur von ganz, ganz wenigen Menschen gefunden. Joseph und seine Freunde zählten nicht dazu. Als der Frühling langsam ins Land zog und man die Erde durchsiebte und auswusch, da waren die Funde dann doch nicht so groß, und Joseph begann sich Gedanken zu machen, den Claim überhaupt aufzugeben und mit seiner Frau weiterzuziehen. Auf einer der wenigen Fahrten mit dem Pferdeschlitten nach Stuart zum Einkaufen, bot der Geschäftsbesitzer, der mittlerweile schon weit über 70 Jahre alt war und sich zur Ruhe setzen wollte, Joseph den Laden zum Kauf an. Der Preis war verhältnismäßig gering. Sara konnte das Geschäft zu Hause führen, er würde mit den Pferden die Lieferungen hinaus zu den einzelnen Goldgräberlagern übernehmen, gemeinsam würde man die Einkäufe vornehmen und die Waren verstauen. Das klang wie ein Angebot vom Himmel, denn so ganz geboren für die große Einsamkeit war Sara denn doch nicht und der Umgang mit den Kunden im kleinen Laden würde ihr genügend Abwechslung bringen. Sie mussten gar nicht lange überlegen, der Entschluss, ihr ganzes Erspartes in das Geschäft zu investieren, war schnell getroffen. Es gab auch eine recht angenehme Wohnmöglichkeit gleich hinter dem Laden, Scheunen und Stallungen für die Pferde und ein großes Warenlager. Dort wurden alle Vorräte gestapelt und verwahrt. Das kleine Gespann für den Transport der Güter in die entfernten Lager wurde in den Kaufpreis eingeschlossen und somit waren die Beiden für eine sichere Zukunft gerüstet.
Die nächsten drei, vier Jahre verliefen einigermaßen ruhig. Es spielte sich ein geregelter Lebensablauf ein. Die Einkäufe kamen regelmäßig mit dem Boot in Stuart Crossing an, Joseph fuhr die einzelnen Bestellungen mit seinem Pferdekarren tief in die Wildnis zu den abgelegenen Schürfplätzen und Siedlern, denen es nicht möglich war, die Fahrt in das Dorf selber durchzuführen. Während seiner Abwesenheit versorgte Sara den kleinen Laden, bekochte auch manchmal Neuankömmlinge, die auf ihren Weg zu den Goldclaims eine Rast im Ort einlegten. Dann kam ein besonders starker Winter, mit viel Schnee und Eis, selbst mit dem Pferdeschlitten konnte Joseph seine Bestellungen nicht mehr ausliefern und so war man im Frühling sehr besorgt um jene Leute, die da draußen im Busch diesen harten Winter so recht und schlecht überlebt hatten. Der Frühling brach über Nacht ein und mit ihm schmolz das Eis auf dem kleinen Fluss und der viele Schnee auf den südseitigen Hängen. Weil aber der große Yukon River immer noch mit einer dicken Eisschicht bedeckt war, konnte das Wasser nicht abrinnen und staute sich zu großen Überschwemmungen in und um das Dorf auf. Alle noch vorhandenen Lebensmitteln mussten im Lagerschuppen in den ersten Stock geschleppt werden, im Wohnhaus wurde an Möbelstücken alles auf den Dachboden geräumt, was nur möglich war. Die Pferde musste man frei laufen lassen und hoffen, dass sie sich selber einen sicheren, höher gelegenen Platz finden würden. Chaos war im kleinen, sonst so beschaulichen und ruhigen Stuart Crossing ausgebrochen. Tagelang gurgelten die Wassermassen rund um die Häuser, die Wege waren unbegehbar geworden, man konnte sich nur mehr mit kleinen Booten zwischen den Häusern fortbewegen. Dann brach eines nachts doch das Eis am Yukon River auf, riesige Eisbrocken schoben sich den Fluss hinunter, aber endlich, endlich konnte auch das Wasser der Seitenarme abfließen und langsam sah man wieder Land. Der Boden jedoch war mit einer dicken Schlammschicht bedeckt, die nachts gefror, tagsüber aber zu einem zähen Brei wurde, der einem die Stiefel fast auszog. Aber diese Menschen waren an die Härte der Natur gewohnt, es wurde nicht gejammert oder um Hilfe von der Regierung gebeten, man spuckte selbst in die Hände und in nachbarschaftlicher Hilfe wurde ein Haus nach dem anderen gesäubert und wieder bewohnbar gemacht. Dann kamen die ersten Nachrichten aus den entlegenen Camps, auch dort hatten die Minenarbeiter mit dem Hochwasser zu kämpfen, vielen wurde die kostbare Erde, die sie in mühsamer Kleinarbeit den ganzen Winter über aus ihren Schächten gegraben haben, mit einer Welle fortgespült, auf Nimmerwiedersehen! Das tat weh und war auch der Grund, warum dann doch viele ihre Claims einfach aufgaben und sich um einen anderen Ort zum Gold schürfen umsahen.
Der kalte Winter und das nasse Frühjahr haben jedoch Josephs Gesundheit sehr zugesetzt. Plötzlich konnte er seine Arme und Beine nicht mehr bewegen, wurde von Krämpfen geplagt und der Schlaf blieb oft tagelang aus. Er war keine Hilfe mehr in ihrem kleinen Geschäft und verbrachte die meiste Zeit des Tages in einem Lehnsessel beim Ofen sitzend, vor sich hinstarrend und vollkommen lustlos. So hatte er sich das neue Leben hier in der Kanadischen Wildnis nicht vorgestellt, und nun hatte er auch noch seine junge Frau hier ins Nichts mitgebracht, wie sollte das weitergehen.
Aber Sara war eine vom harten Schlag. In dem Augenblick in dem sie einsah, dass sie auf die Hilfe ihres Mannes nicht mehr zählen konnte, nahm sie ganz fest die Zügel in die kleinen Hände und leitete das Geschäft nach ihren Vorstellungen und auf ihre Art. Ein verlässlicher Indianerführer wurde eingestellt, der die Fahrten in die noch wenigen Außen Camps übernehmen sollte. Sie selbst führte den Ein- und Verkauf und auch viel Tauschhandel mit den umliegenden Indianerstämmen würde geführt. Als dann im Sommer die ersten Schiffe wieder den Fluss herauf nach Stuart Crossing kamen, sich der Gesundheitszustand von Joseph nicht gebessert hatte, da beschloss man schweren Herzens, dass er sich auf die Fahrt in den Süden begeben sollte. Nach Vancouver, wo eine Schwester lebte und er in einem der Krankenhäuser ärztliche Betreuung finden würde. Heute würde die Diagnose Multiple Sklerose heißen, aber damals wusste man noch nicht so Bescheid über die Krankheit der Nerven und Muskeln und sein Leiden sollte über Jahre andauern. So blieb dem jungen Ehepaar nur mehr der Postweg, um sich miteinander zu verständigen und sich auf dem Laufenden zu halten. Sara wuchs geradezu über sich selbst hinaus. Sie wurde zum Mittelpunkt des kleinen Dorfes. Jeder der von außen kam oder nach draußen ging, der machte in ihrem Laden halt, fragte, ob sie Hilfe bräuchte, ob man etwas für sie von draußen mitnehmen könne. Aber sie kam mit allem sehr gut alleine zurecht, wurde eine Pionierfrau wie man sie sich besser nicht vorstellen kann. Fast eintönig liefen die nächsten Jahre ab. Die Boote kamen und gingen, so wie ihre Passagiere, die Menschen in und um die kleine Ansiedlung wurden auch immer weniger, sodass man kein großes Warenlager mehr halten musste. Die Nachrichten von Josephs Gesundheit zeigten auch auf keine Besserung hin, im Gegenteil, er verfiel immer mehr und mehr, schrieb seine Schwester und hätte nur noch die eine Bitte, dass er im Norden, an der Seite seiner geliebten Frau seine letzten Tage verbringen könne.
Der Winter ging schon dem Ende zu, da machte sich Sara auf den Weg um nach Vancouver zu reisen, um ihren Joseph nach Hause zu holen. Das Eis auf dem Fluss war noch einigermaßen stabil, sodass sie sich einen Hundeschlittenführer anheuerte, der sie mit seinem Gespann bis nach Whitehorse bringen sollte, von dort wollte sie dann mit der Pferdekutsche und später mit dem Zug ihre Reise nach Vancouver antreten. Die Tage wurden wärmer und wärmer und das Eis immer unsicherer, es gab schon tiefe Risse in der Eisdecke, das Wasser des Flusses drückte nach oben und der Schlitten musste oft große Umwege um diese unsicheren Stellen machen. Da war man gut beraten, sich auf die Hunde zu verlassen, die spürten am ehesten, wenn man sich einer gefährlichen Stelle näherte und blieben einfach stehen. Manchmal musste Sara aus dem Schlitten steigen, sich vorsichtig zu Fuß über die Sprünge im Eis bewegen, dann erst konnte der Schlitten mit den Hunden folgen. Die Reise dauerte doppelt so lange als geplant. Selbst als sie dann nur mehr nachts auf dem Eis unterwegs waren, weil tagsüber die Sonne die obere Schichte zu sehr auftaute, selbst dann ging es oft nur sehr langsam voran, weil man sich einfach nicht mehr richtig sicher fühlen konnte. Aber eine voller Mond leuchtete ihnen den Weg nach vielen Tagen, in denen sie nur wenige Stunden im Schlitten oder in kleinen Hütten entlang des Flussufers rasten und schlafen konnten, kamen sie in der Hauptstadt des Yukons an. Sehr überrascht waren die Bewohner, dass sich um diese Zeit und bei diesen Eisverhältnissen noch jemand über den Fluss bis in die Stadt getraut hätte. Als man dann aber von Josephs letzten Wunsch erfuhr, da standen sie alle hilfreich zur Seite um Sara die Strapazen dieser Fahrt so schnell wie möglich vergessen zu lassen. In ihrer ruhigen, bestimmten Art, ließ sie sich die Höflichkeiten und die Hilfsbereitschaft gerne gefallen, war jedoch den Umgang mit so vielen Menschen auf einmal nicht mehr gewöhnt und suchte lieber die Stille und Abgeschiedenheit ihres Hotelzimmers auf, wo sie las und geduldig auf die Abfahrt der Pferdekutsche wartete. Selbst diese Fahrt war ein Härtetest, denn die Straßen waren nur mehr oder weniger Karrenwege in tiefen Schotter, im Frühlingsmonats versanken die Räder oft bis zu den Naben im Sumpf und konnten nur mühsam weiterbewegt werden. Aber es ging, Tag für Tag ein Stückchen weiter, ein Stückchen dem Süden entgegen. Einer Zukunft entgegen, von der sie sich keine Vorstellungen machen konnte. Wie würde sich die Gesundheit ihres Mannes weiterentwickeln, wie würde sie ihn überhaupt hinauf in den Norden bringen können? War er noch stark genug, eine so lange anstrengende Reise zu überleben? Tausende ähnlicher Fragen fuhren in ihrem Kopf mit und sie konnte keine Antwort darauf finden. Erst wenn sie Joseph wirklich gesehen hatte, erst dann würde sie mehr Überblick bekommen.
Und endlich kam sie dann nach vielen Wochen im herrlichsten Frühling in Vancouver an. Alles blühte und grünte und strahlte im hellsten Sonnenschein. Eine Welt lag vor ihr, wie sie sie viele Jahre nicht gesehen hatte, doch auch nicht so sehr vermisst hatte. Die vielen Menschen, denen ging sie bald wieder aus dem Weg, die vielen Einladungen der Familie und Freunde, das wurde alles bald zu anstrengend und zu unruhig für sie. Sie war nicht gerade ein Einsiedler, aber doch ein sehr introvertierter Mensch geworden, da oben im Yukon, das geschäftige Treiben hier in der großen Stadt, das war nicht mehr das Ihre.
Joseph war nur mehr ein Schatten seiner selbst. Konnte nur mit Mühe noch kurze Zeit in einem bequemen Stuhl sitzen, man musste ihm sein Essen eingeben, das Reden fiel ihm schwer und kam oft sehr undeutlich aus seinem Mund. Aber Saras Liebe war riesengroß und als sie seine strahlenden Augen sah, die sich nicht von ihr abwenden konnten und er mühsam die Bitte vorbrachte, nach Hause, in den Yukon gebracht zu werden, da blieb ihr keine andere Wahl, als sich so schnell wie möglich auf der Suche nach einem Schiff zu begeben, dass die Reise bis zum Yukon antreten würde. Marie, die jüngste Schwester von Joseph wollte sie auf dieser Reise begleiten und ihr bei der Betreuung des Bruders im Norden helfen. So packten die beiden Frauen alle Habseeligkeiten in schwere Kisten zusammen, buchten sich zwei Kabinen auf dem nächsten Dampfer der von Vancouver über Prince Rupert nach Skagway Alaska fahren würde. Dort musste man dann in den Zug umsteigen und ab Whitehorse ging es dann mit einem Schaufelraddampfer wieder den Yukon River hinunter bis Stuart Crossing. Stille Gebete, dass Joseph diese Strapazen überleben würde, sandten sie in den Himmel und machten sich doch mit schweren Herzen auf die Reise. Bei einem Altwarenhändler, der sie schon vor vielen Jahren mit sehr brauchbaren Ratschlägen bedient hatte, fand Sara eine Art Rollstuhl, in den wurde Joseph nun gepackt, in Decken gewickelt und zwei Männer konnten ihn leicht an Bord tragen. Matrosen übernahmen die Hilfe beim Beziehen der Kabinen und jedermann bewunderte die tapfere, kleine Frau, die da in den unbewohnten Norden reiste, mit ihrem sterbenskranken Mann, dessen letzter Wunsch es war, im Norden, in seiner kleinen Hütte am Stuart River, seine letzten Tage zu verleben.
Wie mühsam seinerzeit das Reisen in den Norden war, das kann man sich kaum noch vorstellen. Heute, mit dem Flugzeug ist man in einer guten Stunde von Vancouver in Whitehorse, damals brauchte man mit dem Schiff schon tagelang, dann zehn Stunden Bahnfahrt und dann wieder mit dem Dampfer einige Tage, bis man endlich am Ziel angelangt ist. Joseph ueberstand jedoch die Strapazen erstaunlicher weise recht gut, je weiter es in seinen geliebten Norden ging, um so besser fühlte er sich körperlich aber auch geistig wurde er wieder viel reger und aufgeweckter. Staunend stand er vor dem kleinen Laden und dem neuen Anbau, der als Wohnhaus diente, was hat seine Frau hier alles alleine geschafft, er konnte es kaum glauben. Man war gerade dabei eine große, überdachte Veranda zum Fluss hin anzubauen, denn sein Wunsch war es, in den warmen Sommernächten, den hellen des Nordens, hier heraußen unter den Sternen zu schlafen. Diesen Wunsch konnten die wenigen Bewohner des Dorfes ihm nicht abschlagen und hatten sich in Abwesenheit von Sara bereits an die Arbeit gemacht. Ein bisschen Glück und Freude kehrte wieder ein, in dieses Haus, das für viele Jahre mehr oder weniger in Stille und Einsamkeit verbracht hatte, denn Sara konnte sich so unsichtbar machen und so still durch ihre Tage gehen, als ob es sie gar nicht mehr gäbe. Dabei all die Arbeit ohne Murren und Stöhnen schaffen, sie war schon etwas ganz Besonderes.
Nach einem halben Jahr, gerade noch bevor das Eis wieder den Fluss unpassierbar machte, verließ die Schwester mit dem letzten Schiff Stuart Crossing. Dieses Leben hier in der Einsamkeit und Wildnis, das war wohl nichts für sie, auch wenn Sara ihre Hilfe mit der Pflege des kranken Mannes dringend benötigt hätte. Aber man konnte sie nicht aufhalten und musste sie ihrer Wege gehen lassen. Nun stand Sara wieder allein vor einer riesigen Aufgabe, die für diese zarte, kleine Frau fast unmenschlich schwer schien. Aber ein eiserner Wille und eine übergroße Liebe halfen ihr jeden Tag zu bewältigen. lag sie dann still weinend in ihrem Bett, todmüde, alle Knochen taten einzeln weh, aber morgen, morgen ging alles wieder von vorne los.
Als dann die Kälte hereinbrach, tagelange Schneestürme ums Haus tobten und sie Mühe hatte, mit dem kleinen Holzofen das Haus warm zu halten, da verfiel auch Joseph immer mehr und verlor auch den Mut am Leben. So schlief er dann doch Ende November friedlich in seinem Bett ein und sein Leiden hatte ein Ende gefunden. Aber auch Saras Leben würde sich dadurch verändern. Es fiel die übergroße Verantwortung für den Kranken ab, sie musste nicht mehr mit ansehen, wie es ihn quälte und wie er litt. Sie konnte wieder freier atmen und besser schlafen. Da das Erdreich schon zu fest gefroren war um ein ordentliches Grab auszuheben und sie nicht wusste, ob sie alleine weiter im Norden leben würde, wurde der Leichnam in einem provisorischen Sarg gelegt und sobald das Eis auf dem Fluss trug, trat er die Reise in den Süden, nach Vancouver zum Rest seiner Familie an. Sara wollte diesen einen Winter noch alleine hier in Stuart Crossing verbringen, versuchen einen Käufer für den kleinen Laden und das Anwesen zu finden und sich dann vielleicht zu ihrer eigenen Familie in den Osten des Landes begeben.
Aber dann blieb sie doch, der Spell, die Magie des Yukons, der ließ sie nicht mehr los. Sie konnte die Stätte ihrer Jugend, ihres kurzen Glücks in der Ehe, die Stätte des Leiden ihres Mannes nicht verlassen. Und so begann sie zu schreiben, lernte auf die Jagd zu gehen und legte sich eine Meute Schlittenhunde zu, mit denen sie viel unterwegs war. Einen Tauschhandel mit den Fellen der Trapper und Indianer begann und sie legte sich ein Leben zurecht, dass nicht viele Frauen alleine schaffen würden.
Mit ihrer Familie sowohl im Osten Kanadas als auch im Süden des Landes, in Vancouver und Victoria, unterhielt sie einen regen Briefwechsel, so gut es eben seinerzeit mit den bescheidenen Transportmitteln ging. Ihr tagelangen Schlittenfahrten zu den einzelnen Lagern der Indianer und Fallenstellen gehörten zum Höhepunkt ihres Lebens. Gerne saß sie stundenlang mit diesen einfachen Menschen ums Lagerfeuer und ließ sich Geschichten aus den Anfangszeiten des Yukon erzählen, sich gar nicht bewusst, dass sie eigentlich selbst am Beginn der wirklichen “Entdeckung” des Landes stand und mithalf, dieses zu besiedeln und auf dem Kontinent Nordamerikas bekannt zu machen.
Sara lebte ein langes, wenn auch nicht ganz gesundes Leben in ihrer geliebten Wildnis. Die lange, schwere Pflege ihres Mannes hatte ihr Schäden an der Wirbelsäule hervorgerufen, die man nicht behandeln konnte, aber die viele Bewegung in der frischen Luft, das freie und ungebundene Leben, das half ihr wieder auf die Beine. Viele Freier stellten sich ein, denn Kanada ist und bleibt das Land der einsamen Männer, aber sie konnte sich nicht mehr zu einer weiteren festen Verbindung entscheiden. Sie hatte gute Freunde, die ihr oft mit Rat und Tat zur Seite standen, auch fest mitanpackten, wenn sie es alleine nicht schaffen konnte, aber in eine zweite Ehe konnte sie keiner dieser Männer mehr hineinreden. In ihren alten Tagen, da wurde sie dann ruhiger, schrieb viel, sorgte sich um die kleinen Indianerkinder, lernte ihnen lesen und schreiben, oder las ihnen auch selbst nur stundenlang aus alten Büchern vor um sie zu unterhalten, wenn deren Eltern auf Fischfang oder Jagd waren.
Nach ihrem Tod haben die wenigen Freunde die geblieben sind ihre Leiche verbrannt und die Asche über dem Yukon River verstreut. Das war ihr Wunsch, dem man gerne nachgekommen war.
Sie war eine erstaunliche Frau, eine Pionierin ersten Ranges, sie hatte viele der starken Männer überlebt und einen tiefen Eindruck in diesem Land hinterlassen. Von ihrem Leben und ihren Taten erzählt man heute noch in dem kleinen Gemischtwarenladen, den es immer noch in Stuart Crossing gibt.