Das
kleine Schloss am Straßenrand
In einer
Zeit, die genauso war wie die heutige, fuhr einmal ein
Vater mit seinen beiden Söhnen im Auto in die Stadt. Der eine Sohn war siebzehn
Jahre alt, der andere erst vier. Diese drei Menschen hatten ihre Frau und
Mutter verloren und waren deshalb oft traurig.
Fuhren
sie mit vielen anderen Wagen der Stadt zu.
„Schau,
Papa, ein Schloss!!“ rief Andreas, der kleine Sohn.
Und
wirklich stand ein kleines Schloss knapp neben der Straße und war nicht größer
als ein halber Mann.
„Anschauen!
Anschauen!“ rief Andreas. Da waren sie mit ihrem Auto schon weit, weit weg.
„Mama ist auch in einem Schloss im Himmel“, sagte Andreas.
Der Mann
wurde tief traurig.
Fuhren
sie wieder einmal auf dieser Straße. Brausten die Autos, herrschte wieder
dichter Verkehr.
„Papa,
das Schloss! Papa, das Schloss!“
Und sie
sausten an dem kleinen Schloss vorbei.
„Heute
ist keine Zeit“, antwortete der Vater. Weit, weit weg waren sie schon von dem
Schloss. Andreas begann zu weinen. „Anschauen!“ rief er. Doch das Auto fuhr
dahin, weit, weit waren sie von dem kleinen Schloss entfernt.
Fuhren
die drei wieder einmal diese Strecke.
„Du,
Paps“, sagte Georg. „Andreas träumt von dem kleinen Schloss. Ich glaube, wir
sollten stehen bleiben und es uns ansehen. Ist doch ungewöhnlich, so ein
kleines Schloss am Straßenrand. Weiter vorne ist eine Stelle, da kannst du
parken. Heute haben wir etwas Zeit. Bitte Paps. Ich bin auch neugierig.“
„Es ist
gefährlich, so knapp neben der Straße zu gehen.“
„Ich
passe auf Andreas auf. Und auf mich aufpassen tu ich selber.“
„Das
Schloss! Das Schloss!“ rief Andreas.
„Du,
vorne kannst du halten“ sagte
Georg.
Der
Vater blinkte rechts und wurde langsamer und sie hielten am Straßenrand. Sauste
und brauste der Verkehr vorbei.
„Nimm du
Andreas an der Hand, Georg. Ich gehe hinter euch. Pass ja auf deinen Bruder
auf! Du weißt, wie quicklebendig er ist.“
So
gingen die drei am Straßenrand, und wirklich: Andreas
hüpfte und sprang vor Freude, doch Georg hielt ihn fest, ganz, ganz fest.
Wehte
ihnen der
Wind der Autos ins Gesicht.
Kamen
sie zu dem kleinen Schloss.
Tatsächlich
war es ein wunderschönes Schloss mit Zinnen und mit Türmen. Mitten drin im
Schlosshof wuchs ein kleiner Baum, und der Vater
wunderte sich. Andreas schaute durch die kleinen Fenster. Der Verkehr brauste
vorbei. Sagte der Vater: „Nun, muss ich mir das Schloss auch genauer ansehen.“
Und er hockte sich nieder.
Wie er
sich niederhockte, wurden er, Georg und Andreas immer kleiner und kleiner. Das
Schloss wurde größer und größer und wuchs ihnen weit über die Köpfe. Staunten
die drei.
„Ein
Schloss! Ein Schloss! rief der kleine Andreas.
„Du
meine Güte, was ist passiert?“ staunte Georg.
„In was
sind wir da bloß geraten?“ fragte sich der Vater. Alle drei schauten groß
Treppe und Eingang des Schlosses an.
„Unheimlich“,
sagte Georg.
„In was
wurden wir da hineingezogen?“ fragte sich der Vater.
Andreas
aber blieb munter und voll Freude und zog Georg mit sich fort.
„Mama
ist auch in einem Schloss im Himmel. Vielleicht ist das das Mama –
Schloss!“
Sie stiegen
die Treppe hinan und klopften mit dem großen eisernen Türklopfer an. Nichts
rührte sich. Sie warteten, aber nichts geschah.
„Vielleicht
ist die Türe offen“, sagte Georg und probierte. Sie ging ohne großen Widerstand auf. Traten die
drei ins Schloss.
Drin
standen sie in der Vorhalle. Niemand war zu sehen.
„Wenn es
hier irgendwo ein Dornröschen gibt, küsse ich es“, sagte Georg.
„Hör auf zum Spaßen,
Georg. Das ist eine ernste Situation. Aus der müssen wir erst einmal
heil herauskommen.“ Der Vater rief laut:
„Hallo!
Ist da jemand?“
Ein Echo
durchfuhr den Raum: „Ist da jemand? Ist da jemand?“
„Hallo! Hallo!“ rief Andreas
„Hallo!
Hallo!” rief es leise zurück.
Sie
schritten weiter, rufend und lauschend.
„Ist da
jemand? Ist da jemand?“ hörten sie das Echo.
Sie
kamen in den Thronsaal. Auch er war leer.
„Wir
müssen wohl das ganze Schloss absuchen“, sagte der Vater. „Zusammenbleiben.
Hier kann man sich verirren.“
Sie
riefen und suchten, sie suchten und riefen.
Hörten
sie auf einmal laute Schritte näherkommen.
„Jetzt
wird es ernst!“ flüsterte Georg.
Wer wird
es sein, der vor ihnen auftauchen wird? Ein Gespenst? Ein Untoter? Ein paar
Schuhe allein?
„Kommt
mir sehr lebendig vor“, brummte der Vater.
Sie
standen da, die Schritte näherten sich, wer stand vor ihnen? Der König!
„Ihr
habt mich gerettet! Ihr habt mich gerettet!“ rief der König aus. Er lief herzu
und fiel dem Vater um den Hals. „So
lange, so lange“ weinte er. „Und du, mein tapferes Kind, bist auch gekommen?
Nun kann ich endlich in die Hände klatschen und der Spuk ist aus!“ Und er
klatschte zwei Mal kräftig in die Hände.
Standen
die vier neben der Straße. Der Wind der fahrenden Autos wehte ihnen ins
Gesicht. Verständigen konnten sie sich kaum, so laut war es.
„Eure
Majestät, hier entlang, bitte,“ rief der Vater in den
Lärm hinein.
„Was ist
das?“ rief der König. „Herrscht hier Krieg?“ er meinte die Unmenge rasend
schneller Wagen.
„Wir
leben jetzt so“, rief Georg zurück. Und sie gingen zum Auto und stiegen ein.
Der
König fragte immerzu: „Was ist das?“
„Was ist
das?“
„Das ist
ein Auto.“
„Was ist
das?“
„Das ist
ein Lenkrad.“
„Was ist
das?“
„Das ist
der Sicherheitsgurt.“
Er hörte nicht auf zu fragen und war an
allem interessiert. Reihte sich der Vater in den Strom der Autos ein.
Wo war
das Schloss geblieben? Da war nur mehr ein Häufchen Sand, mit dem der Wind von
den Autos sein Spiel trieb.
„Eure
Majestät können bei uns auf der Couch schlafen, bis sie sich an all das Neue
gewöhnt haben.“
„Toll! Toll!“ rief Andreas.„Ein König zuhause!”
Der
König fragte und Andreas antwortete. Beide verstanden sich prächtig.
„Meine
Mama lebt auch in einem Schloss im Himmel.“
Der
Vater wurde wieder traurig. Er vermisste seine Frau sosehr.
Der
König aber blieb bei der Familie, bis er sich mit dem Leben in der Welt
vertraut gemacht hatte.
„Ich bin
ja so froh, dass ihr mich gerettet habt“, sagte er wieder und wieder. „Lange hätte ich es
nicht mehr ausgehalten, nicht zu klatschen. Denn freut mich etwas, dann
klatsche ich nämlich!“ Und er klatschte vor Freude in die Hände.
Andreas
aber durfte jeden Tag die Krone anfassen und ganz genau anschauen. „Wenn ich
groß bin, werde ich auch ein König!“ War seine Meinung.