HEIMO WACHA RAW CUT BEST OF MÄRCHEN

 

Ein Märchen von zwei Kopftüchern

Es war einmal ein Tag, ein Tag von vielen. Busse fuhren, Straßenbahnen fuhren, die Leute arbeiteten, eine alte Bäuerin war in die Stadt gekommen, um ihre Freundin zu besuchen. Saß sie in der Straßenbahn, am Vormittag war nicht viel los. Stieg ein junges Mädchen mit einem fremden Kopftuch ein. Setzte es sich der alten Bäuerin gegenüber. Die alte Bäuerin trug auch ein Kopftuch.

Musterte die Bäuerin das junge Mädchen.

Fing ihr Kopftuch zu flüstern an: „Sprich sie an! Sprich sie an! Sie trägt ein Kopftuch genauso wie du. Bist du nicht die einzige alte Frau hier mit Kopftuch? Bist du nicht anders als die anderen? Sprich sie an! Sprich sie an! Ich will so gerne etwas über sie erfahren. Bitte! Bitte, sprich sie an!“

Die alte Bäuerin zögerte. Das junge Mädchen merkte, dass es beobachtet wurde. Es lächelte. Lächelte die alte Bäuerin. Fragte sie: „Kommst du von weit her, mein Kind?“

Stolz antwortete das Mädchen: „Ich bin hier geboren!“

„Aber du trägst ein Kopftuch, mein Kind.“

„Ich trage es“, entgegnete das Mädchen, „weil ich meinen Vater liebe. Er hat seine Heimat verlassen, ist hierher gekommen und hat immer fleißig gearbeitet. Er ist ein starker Arm für die Gesellschaft. Und ich trage es, weil ich meine Mutter liebe. Sie ist eine gute Mutter, gut zu mir, gut zu meinen Geschwistern, gut zu anderen. Und warum tragen Sie ein Kopftuch?“

„Ich trage es“, sagte die alte Bäuerin, „weil ich meine Heimat liebe. Und weil ich es gewohnt bin von früher. Sicher, welche Frau trägt heute noch ein Kopftuch? Du, mein Kind, und ich sind hier die einzigen. Schau“, sprach die alte Bäuerin, und knüpfte das Kopftuch auf. „Das ist meine Heimat.“ Sie breitete das Kopftuch in ihrem Schoß aus und strich mit der Hand darüber.

„Da ist der Bauernhof, auf den ich eingeheiratet habe. Da ist das Vieh und das grüne Land umherum. Da sind die Obstbäume und da ist die Straße, die zu uns führt.“

Das Mädchen schaute auf das Muster des Kopftuches und sah darin alles: Hof, Stall, Vieh, Wiesen, Wald, den Bauern, die Kinder, die Nachbarn. Die alte Bäuerin strich mit der Hand liebevoll über das Tuch.

Knüpfte das Mädchen sein Kopftuch auf. Es legte es in seinen Schoß, strich darüber und sagte: „Das ist das Land, aus dem Vater und Mutter kommen. Da sind die Berge, hier die Eisenbahn, da lebt mein Onkel mit seinen Schafen. Heiß ist es, aber ein Fluss fließt da, das sind die Häuser unserer Nachbarn, da haben meine Eltern gewohnt.“ Liebevoll strich das Mädchen über das Kopftuch und die alte Bäuerin sah in dem Muster alles: die Berge, die Schafe, die Eisenbahn, den Fluss, die Menschen. Sie lächelte.

Da erhoben sich die beiden Kopftücher, flogen auf mit dem Fahrtwind und entschwanden durch das offene Fenster. Weg waren sie!

Entfuhr es der alten Bäuerin: „Das habe ich nun davon, weil ich mich einer Ausländerin geöffnet habe!“ Bereute sie sofort, was sie gesagt hatte. „Es tut mir leid, mein Kind, das waren jetzt böse Worte. Du kannst doch nichts dafür. Aber ich hänge sehr an meinem Kopftuch. Es ist so wie Heimat für mich.“

Fuhr die Straßenbahn in eine Haltestelle ein. Stiegen die beiden Kopftücher angeregt schwatzend ein und hüpften sie in den Schoß ihrer Besitzerinnen.

„Da bist du ja wieder, du Ausreißer!“ flüsterte das Mädchen über ihr Kopftuch. Band es es um den Kopf. In seinen Augen sprach die Verletzung.

Die alte Bäuerin sagte zu ihm: „Bitte, entschuldige meine Worte. Es tut mir aufrichtig leid. Ich war sehr verletzend.“

Wischte sich das Mädchen eine Träne weg. Dann sagte es: „Die Heimat lieben, das ist gut. Aber zur Liebe gehört der rechte Glaube. Erleidet die Heimat Schaden, so steht doch der Glaube fest und hilft, über die Wunden hinwegzukommen.“

„Mein Kind, ich danke dir für deine Worte“ sprach die alte Bäuerin. „Ich habe dich verletzt, verzeih mir.“

Das Mädchen nickte. Die Kopftücher flatterten im Fahrtwind. Das Mädchen stand auf, sagte:

„Ich muss nun aussteigen“, und es lächelte. Scheu stand es an der Tür, bis es ausstieg. Der alten Bäuerin reuten die Worte, die sie in ihrer Angst um das Gewohnte und Vertraute hinaus gesagt hatte. Blieb noch lange ihr Herz stumm, auch verletzt.