Die Schere, die fliegen
konnte
Es war
einmal eine Schere, die konnte fliegen.
„Wie eng
ist es hier!“ klagte sie, denn noch hatte niemand sie gekauft. Sie hing in
ihrer Verpackung in einem Papierhandelsgeschäft und seufzte und seufzte.
„Ich
kann fliegen!“ rief sie.
Das
kümmerte niemand.
Kam eine
Frau gegangen. Sie suchte eine Schere. Nahm sie die Schere, die fliegen konnte,
vom Haken und öffnete sie die Verpackung. Da war ein Faden locker an ihrem
Rock.
„Mal
sehen, wie sie schneidet“, sagte sie.
Aber aus
ihrer Verpackung befreit, wollte die Schere fliegen. Ja, fliegen wollte sie,
und sie entwischte aus der Hand der Frau.
Die
kreischte: „Die Schere fliegt! Die Schere fliegt!“ Und sie wedelte mit der Hand
vor ihrem Gesicht. Alle Leute schauten sie an. Die Schere stieß da an, stieß
dort an. Schnell schlüpfte sie in ein Regal und versteckte sich. War die Frau
allein mit ihrem Erlebnis. Völlig verunsichert verließ sie die Papierhandlung.
Die
Papierhandlung lag im Kellergeschoß, und als die Frau
gegangen war, schlüpfte die Schere aus ihrem Versteck und flog durch die Reihen
der Regale.
„Tatsächlich!“ rief ein Mann aus. „Eine
Schere, die fliegt.“
„Brauchen
Sie vielleicht eine Schere, die fliegt?“ fragte die Schere.
„Nein,
brauche ich nicht“, sagte der Mann. „Geh aber weiter weg, du, ich will dich
nicht vor meinem Gesicht.“
Die
Schere war enttäuscht. Sie wurde nicht gebraucht. Dabei ist aller Scheren
Leben, gebraucht zu sein. Fragte die Schere weiter.
„Brauchen
Sie vielleicht eine Schere, die fliegt?“
„Nein,
danke“, war die Antwort.
Versuche
ich es woanders, dachte die Schere. Nun konnte sie schon besser fliegen und
stieß nicht mehr an. Sah sie die Rolltreppe. „Was ist denn das?“ rief sie aus.
Sie legte sich auf die erste Stufe und ließ sich, zockel, zockel, zockel, ins
Parterre hinauftragen. Heissa! War das lustig! Und
sie flog an einem Cafe´ vorbei, flog zur Türe des kleinen Einkaufszentrums, öffnete sie und war flugs verschwunden.
Wie ein
Bettler fragte sie den ganzen Tag lang: „Brauchen Sie eine Schere, die fliegen
kann? Brauchen Sie eine Schere, die fliegen kann? Brauchen Sie vielleicht eine
Schere, die fliegen kann?“
Niemand
brauchte eine Schere, die fliegen konnte. Enttäuscht war die Schere. Sie wollte
doch sosehr gebraucht sein!
Am
nächsten Tag und am übernächsten dasselbe. Kein Mensch brauchte eine Schere,
die fliegen konnte. Wurde die Schere böse. Schnipp! Flog sie herum und
schreckte die Leute. Schnipp! Schnipp! schnitt sie in die Tischdecken eines
Cafes. Schnipp! Schnipp! Schnitt sie einer jungen Frau Haare weg. Schnipp!
Schnipp! Schnitt sie im Park einem Baum die Hälfte der Blätter ab. Schnipp!
Schnipp! war sie wütend – und elend war ihr. Wollte sie doch so gerne
gebraucht sein!
Flog sie
mit den Spatzen herum und war faul. Flog sie mit den Schwalben herum und übernachtete
sie in einem alten Schwalbennest.
Flog sie
mit den Tauben auf die Hausdächer und um den Hauptplatz. Frei war sie, fliegen
konnte sie, Erlebnisse hatte sie zuhauf, aber gebraucht wurde sie nicht.
„Gebraucht
sein ist doch alles für eine Schere!“ rief sie. Die Tauben kümmerte das nicht.
„Schön fliegt sie, gurr, gurr“, sagten sie.
„Aber eine Taube ist sie nicht.“
„Toll
fliegst du!“ riefen die Spatzen, aber ein Spatzenleben war kein Scherenleben.
Am
lustigsten war das Fliegen mit den Schwalben. Hoch im Himmel sein, um die Häuser fliegen, weit herumkommen. Fliegen! Fliegen!
Fliegen! Aber eine Schwalbe war die Schere nicht, und letztlich war das Leben
der Schwalben doch langweilig. Und böse sein wollte die Schere auch nicht. Sie
wollte Menschen, Menschen, Menschen – und gebraucht sein! Einmal, einmal,
einmal gebraucht sein!
Und sie
kehrte in die Straße zurück, in der das kleine Einkaufszentrum lag und setzte
sich müde auf die Bank der Bushaltestelle. Da saß sie, schaute in die Sonne,
hörte den Verkehr und war traurig, tief traurig.
Kam
langsam eine alte Frau gegangen. Sie setzte sich auf die Bank, um auf den Bus
zu warten.
„Nanu“,
sagte sie, „solltest du nicht irgendwo sein?“ Sie meinte, war da niemand, der
die Schere brauchte? Sie vermisste?
Müde
fragte die Schere: „Brauchen Sie vielleicht eine Schere, die fliegen kann?“
Weise
schaute die alte Frau die Schere an. „Eine Schere, die fliegen kann, brauche
ich nicht“, sagte sie, „aber eine Schere, die schneiden kann, die brauche ich
wohl. Kannst du schneiden?“ fragte die alte Frau liebevoll. „Meine Schere
zuhause ist so alt wie ich. Sie will nicht mehr richtig. Kannst du schneiden?“
fragte die Frau noch einmal die müde, fliegende Schere.
„Sicher“,
gab die Schere zur Antwort. „Sicher kann ich schneiden. Aber ich fliege auch
und möchte nicht eingesperrt sein und liegen, liegen in einer
Lade. Ich bin eine Schere, die fliegt.“
Die alte
Frau sagte zu der Schere, die ihr Unglück mit ihren Worten nicht hatte
verbergen können: „Wenn du schneiden kannst, soll es mir recht sein.“
„Mein
Papagei ist gestorben. Du kannst in seinem Käfig wohnen, das Türchen lasse ich
immer offen. Nur, wenn ich dich brauche, sollst du da sein.“ Und die alte Frau
pfiff laut, dass die Leute sie anschauten! „Das ist mein Pfiff, wenn ich dich
brauche. Also, komm, du Schere, die fliegt. Probier es mit mir.“
Die alte
Frau lächelte. „Da kommt der Bus. Schlüpfe in meine Tasche, im Bus wird es eng
sein.“
Die müde
Schere ließ sich`s gefallen. Sie schlüpfte in die Tasche und verhielt sich
still.
Fuhr die
alte Frau mit dem Bus zum Friedhof. Dort kaufte sie Blumen und richtete das
Grab ihres geliebten Mannes her. Die Schere flog durch den Friedhof und sah
sich alles an.
Kehrten
die zwei zurück in die Stadt. Bekam die Schere den Vogelkäfig als Zuhause und
ein geöffnetes Fenster für ihre Freiheit. Pfiff die Frau dann und wann. War die
Schere glücklich.
Und am
Abend unterhielten sich die zwei. Sie erzählten aus ihrer
beider Leben und fanden einander sehr interessant. Müde von ihren Flügen
mit den Schwalben, mit den Tauben und mit den Spatzen schlief die Schere des
Nachts in ihrem Käfig.
Die alte
Frau erfuhr jeden Tag, was es Neues in den Straßen gab. So war auch sie
glücklich.
Und in
den Träumen der Schere riefen die Leute: „Sie fliegt! Sie fliegt! Eine Schere,
die fliegt!“ Sie kamen alle, um etwas von der fliegenden Schere schneiden zu
lassen. Zufrieden lächelte die Schere im Schlaf. Und am Ende jedes Traumes kam
die alte Frau und steckte sie in die Rocktasche. Dort blieb sie und war
glücklich bis zum Aufwachen.