Auf dem Messegelände zurück bleibt vor allem, was man »das Lesepublikum« nennt, Menschen, die sich hier am Wochenende zwischen den Regalen durchschieben, Cover ansehen, Klappentexte studieren und den Versprechen der schriftlichen Welt folgen – Repräsentanten für alle jene, die die Kultur des Lesens tragen und durch ihre Anhänglichkeit Bücher erst ermöglichen. »Wer weiß, wie viele Menschen nie verliebt gewesen wären, wenn sie nicht von der Liebe hätten reden hören«, schrieb La Rochefoucauld. Ja, all das Lesen hat Einfluss genommen auf unsere Weise des Lebens und Liebens.
Es sind auch die Manga-Kinder wieder da, wie aus den Seiten gefallene Figuren, die schon einzigartig wirken, weil sie nicht der US-amerikanischen Kultur entsprungen sind, sondern fernöstlichen Bildwelten. Manche dieser grotesken Figuren tragen Schilder mit der Aufschrift »Free Hugs«. Ich probiere zwei aus. Wir kleben ineinander. Wer weiß, wie ich umarmt hätte, wenn ich nie von der Umarmung hätte lesen können!
Ich bin hier wieder so vielen guten Lesern begegnet, Begabungen in der Kunst der Erweckung. Einmal hat ein Hörfunk-Interviewer mich zu einer Neuerscheinung befragt und begonnen mit den Worten: Können wir dieses hinreißende Buch bitte in den nächsten Minuten einmal ausschließlich loben? Ich tat es aus Überzeugung, dachte aber dauernd: Ein liebender Journalist? Fremd wie eine Manga-Figur. Dann übten wir uns gemeinsam in der raren Kunst des Rühmens. Ich ging, staunte, und hörte im Vorbeigehen eine Frau zu einer anderen sagen: »Ich hab keine Vorurteile, ich find nur alles Scheiße!«
Mir geht es anders. Ich habe alle möglichen Vorurteile. Zu diesen gehört auch, dass die Buchmesse ein Fest ist, unzerstörbar in ihrem Kern, also in der Intimität der Selbstbegegnung, vermittelt durch ein Buch, in der Freiheit sich zu verlieren, um sich dabei neu zu gewinnen.

Ein Jahr lang sitzt Roger Willemsen im Deutschen Bundestag – nicht als Abgeordneter, sondern als ganz normaler Zuhörer auf der Besuchertribüne im Berliner Reichstag. Es ist ein Versuch, wie er noch nicht unternommen wurde: Das gesamte Jahr 2013 verfolgt er in jeder einzelnen Sitzungswoche, kein Thema ist ihm zu abgelegen, keine Stunde zu spät. Er spricht nicht mit Politikern oder Journalisten, sondern macht sich sein Bild aus eigener Anschauung und 50000 Seiten Parlamentsprotokoll. Als leidenschaftlicher Zeitgenosse und »mündiger Bürger« mit offenem Blick erlebt er nicht nur die großen Debatten, sondern auch Situationen, die nicht von Kameras erfasst wurden und jedem Klischee widersprechen: effektive Arbeit, geheime Tränen und echte Dramen. Der Bundestag, das Herz unserer Demokratie, funktioniert – aber anders als gedacht.