AUSGABE 2
Maxim Biller: Harlem Holocaust
Das erste Durchlesen
dieses sechzigseitigen Bändchens hat mich zweieinhalb Stunden gekostet, eine
geschlagene Stunde mehr, als es meinem normalen Lesetempo entspricht. Beim
zweiten Durchgang bin ich auf Seite 30 eingeschlafen. Die dritte Runde habe ich
mir daher vorsichtshalber geschenkt, weil ich vermutlich in ein irreversibles
Langeweilekoma gesunken wäre.
Es ist schon erstaunlich (und beinahe
wieder spannend), wie variantenreich Maxim Biller seine Leser zu langweilen
versteht. Da sind zunächst die enervierend verschachtelten Rück- und
Rückesrückblicke mit viel 'damals' und 'hatte' und 'gewesen war'. Dann wird
exzessiv die indirekten Rede gebraucht: 'Sie müsse' und 'er solle' und 'wenn man
so wolle' und so weiter, Sätze, fad wie ausgelutschte Kaugummis. Zum dritten
findet sich über weite Strecken ein Herunterhaspeln von Stoff, wie es allenfalls
in knappgefaßten Inhaltsangaben angebracht ist. Ein Rezensent könnte sich dieses
Mittels bedienen, wenn er dem Leser einen Grobüberblick über den Gang der
Handlung verschaffen will. Als Stilmittel der Erzählung selbst jedoch ist diese
Technik völlig verfehlt, weil sie tragende Geschehnisse wie Schatten am Leser
vorüberjagt, ihn nicht packt, ihn nicht hineinzieht in die Story, sondern
unberührt - und eben gelangweilt - davor stehen läßt. Viertens kann der Autor
sich nicht vom, sagen wir gnädig: essayistischen Duktus seiner diversen Kolumnen
lösen. Der vorgeschobene Erzähler hat, machen wir uns nichts vor, reine
Sprachrohrfunktion (Oder soll uns hier etwa entlarvend gezeigt werden, welchen
Dünnpfiff einer zusammenquasseln kann, der im Jargon des guten Ephraim Rosenhain
über Zebaoth und die Welt parliert? Nie und nimmer!). Und essayistischer Duktus
langweilt per se. Er ist, in einer Erzählung verwendet, stets Ausdruck des
schreiberischen Unvermögens, eine mitreißende Unmittelbarkeit zu herzustellen.
Wie Gustav Seibt in seinem famosen Nachwort (das vom Gestus her eines
600-Seiten-Wälzers würdig wäre) den Erzähler und damit den Autor zuweilen "eine
Spur zu intelligent und witzig" finden kann, bleibt auf ewig sein Geheimnis. Ich
vermute, er verwechselt Intelligenz mit Schlaumeiertum. Versuchsweise definiere
ich 'Intelligenz' als eine Geistesbefindlichkeit, die grundsätzlich 'nicht weiß'
- und deshalb Fragen stellt, wenn nötig in Form der Beschreibung; der
Schlaumeier hingegen weiß immer und zwar alles (oder doch das meiste, jedenfalls
das, 'worauf es ankommt') und sondert folglich in einem fort und ungefragt
Antworten ab, das heißt, subjektive Beurteilungen von Gegenständen und
Sachverhalten. Das nennt man landläufig 'Meinungen'. Und 'gemeint' wird in
diesem Textlein, daß die Schwarte kracht (Berufskrankheit des Essayisten?). Ein
paar Exempel zur Anschauung:
"Warszawskis Bebop-Euphorie hatte den
savonarolahaften Charme der Pubertät, sie war Begeisterung und Protestgeste in
einem..." (33)
"Was mich an dieser Sentenz faszinierte, war der
pennälerhafte Skeptizismus, der ihr innewohnte." (38)
"...überall ist
noch der alte, feige verklemmte Provinzialismus zu sehen, aus dem seinerzeit die
Metaphysik der Zerstörung erwuchs." (47)
"(Die) Seelenverwandschaft
(...) war, im kleinen, genauso eine Illusion und ein eskapistischer,
verzweifelter Rettungsanker gewesen wie, im großen, die von so vielen
propagierte deutsch-jüdische Symbiose.." (49/50)
"...und das
fürchterliche war, daß wir (diesen Leuten) trotzdem aus der Hand fraßen, jawohl,
daß wir uns von ihnen die Welt erklären ließen, in der, wenn es ihnen opportun
erschien, die Nazi-Greuel ebenso zu ihren Argumenten wurden wie gefüllter Fisch,
jüdischer Humor.."(50)
Die beispielhaft angeführten Zitate sind - das
begreift jeder halbwegs funktionierende Verstand auf der Stelle - ein aus dem
hohlen Bauch gesogenes Meinungszeugs, dessen Erkenntniswert bei Null liegt,
wolkiges Geschwätz, das - zum selben Thema aus anderem Mund - beliebig anders
ausfallen würde. Dieses haarsträubende 'Herumgemeine' teilt nichts mit außer der
Tatsache, daß hier ein Autor vom Schlaumeiersyndrom befallen ist: jedes müde
Zucken seiner überlasteten Hirnwindungen hält er für die zweite Offenbarung des
Johannes, die mit Trara in die Welt hinausposaunt gehört. Gerade die Jungs,
fühlt man, die am wenigsten zu sagen haben, reißen die Klappe am weitesten auf.
Das muß wohl ein Naturgesetz sein.
Gustav Seibts Nachwort ist lehrreich,
und deshalb will ich ihm noch ein paar Zeilen widmen. Spontan dachte ich nach
dessen Lektüre: Whau, der hat's echt drauf, der Seibt-Bursche. Klingt extrem
versiert und geschliffen, einfühlsam und souverän - der könnte glatt FAZ-Mann
sein. Dreimal den Hut gezogen vor diesem Feulletonriesen.
Sehr bald aber
wurde ich bedenklich. Ich wunderte mich nämlich darüber, daß sich dieses
Nachwort überhaupt in dem Büchlein befindet. Der Biller traut seinem eigenen
Text wohl nicht, dachte ich. Deshalb hängt er dieses hochtönende Traktat als
quasi-amtliche Beglaubigung hinten dran, damit jeder Zweifel an der Güte des
Werkes von der Eloquenz des gedungenen Lohnschreibers totschlagen würde. So
jedenfalls der häßliche Verdacht, der in mir keimte.
Dann kam das zweite
Stutzen: Der Seibt schraubt sich tirilierend in exegetische Höhen, in die ihn
unmöglich die Schubkraft dieses dürftigen Büchleins getragen haben kann. Es muß
vielmehr die eigene Vokabulierlust sein, die ihn antreibt (gepaart mit dem
Drang, sich beim heiklen Thema 'Holocaust' auf die Seite der Gut- und
Rechtdenkenden zu schlagen). Er ehrt sich selber als großen
Formulierungskünstler, indem er anläßlich der Nichtigkeiten des besungenen
Textobjekts eine Pretiose nach der anderen aus seiner sprachlichen
Asservatenkammer holt. Und im bald hereinbrechenden Deutungsrausch kommt der
Laudator auf Sachen, an die der Autor bei der Niederschrift seiner Zeilen gewiß
im Traum nicht gedacht hat (gleichwohl darauf rechnen durfte, daß sie vom
deutschen Feuilleton aufgedeckt würden). Über das belobhudelte Werk sagt dieses
Nachwort wenig oder nichts aus, dafür umso mehr über den Mann, der es verfaßt
hat. Und was sagt uns dieses Nachwort denn eigentlich (drittes Stutzen)? Es sagt
zum Bleistift:
"Deutsche und Juden (haben) alle Unmittelbarkeit im
Umgang miteinander eingebüßt (...) Nach der Zerstörung ihrer Humanität sind sie
einander zu Plastikpuppen geworden." Abgesehen von der Frage, was die
Begriffe 'Unmittelbarkeit' und 'Humanität' in diesem Zusammenhang bedeuten
könnten, sind die beiden Sätze einigermaßen verständlich ('Plastikpuppen' ist
nett und jeder kennt sie, der einmal einen Beate-Uhse-Katalog aufgeschlagen
hat). Freilich gehören sie, die Sätze, in die Kategorie des urteilenden
Schlaumeiertums, fallen insofern derselben Nichtigkeit und Irrelevanz anheim wie
die angeführten Biller-Fundstücke. Dieses Los teilen sie, nebenbei, mit allen
folgenden Zitaten. Die Affinität der beiden Skribenten zueinander rührt wohl aus
dieser Gemeinsamkeit her.
"Es ist der Sinn von Fiktionsironie, daß der
Realitätsstatus des Erzählten in der Schwebe bleibt." Dies möchte ich
unkommentiert auf der Zuge resp. Netzhaut des Lesers zergehen lassen. Es spricht
ausreichend, meine ich, gegen sich selbst, obgleich man sich immer noch halbwegs
mit Erfolg vormachen kann, man verstünde die Sentenz. Erste ernsthafte
Schwierigkeit zu folgen indessen bekommt man bei der nächsten Äußerung Seibts:
"Der Holocaust hat eine betonartige Freudlosigkeit über das deutsche
Dasein(?) gegossen. Alle Züge der Verquältheit, der Bigotterie, der
Bestrafungs-, Rechtfertigungs- und leeren Reinheitssehnsüchte unserer Kultur
wurden in einem pathologischen Ausmaß(?) gesteigert und dabei ästhetisch
weitgehend fruchtlos gemacht. So ist uns die Leichtigkeit verloren gegangen."
Züge werden gesteigert? Allenfalls doch 'beschleunigt' oder? Im übrigen
möchte ich darauf hinweisen, daß meine Freundin 48 Kilogramm wiegt. Von
'verlorengegangener Leichtigkeit' kann also mitnichten die Rede sein.
Vollends hakt es aber bei der folgenden, als konklusives Crescendo
gedachten Passage aus, nicht nur bei mir, nehme ich an: "Jedes Erzählen
setzt (...) irgendeine Form von (...) Wirklichkeitsvertrauen voraus.." "Eine
gute Story (...) ist nur auf der Basis von Vertrautheit oder sogar
Einverständnis mit der Welt machbar.." "Eine solch kurze Erzählung, die sich auf
die Wirklichkeit einläßt(?) (...) braucht eine von Autoren und Lesern geteilte
und gemeinsam bewohnte Welt." Oh Wittgenstein, komm wieder!
Seibts
Sätze sind nicht nur subjektiv und damit Meinung und damit irrelevant. Sie sind
außerdem vollkommen konfus und unverständlich - auch für ihn selbst. Auf die
Frage etwa, was denn bitte 'Wirklichkeitsvertrauen' sei oder wie man sich ein
'Einverständnis mit der Welt' als Basis für gute Stories vorzustellen hätte (auf
Steuerreform, Knackärsche und Palmenstrände würde es sich wohl erstrecken
müssen; aber auch auf Analverkehr, Hungertote im Sudan oder Frau Wiezoreck-Zeul
als Entwicklungshilfeministerin?) ...auf solche Fragen hin möchte ich den Herrn
Lobredner einmal rudern sehen. Befriedigende Antworten bliebe er unweigerlich
schuldig, womit eingestanden wäre, daß er selber nicht weiß, was er da in
Gönnerlaune von sich gegeben hat. Er muß wohl wirklich FAZ-Mann sein. Und
tatsächlich habe ich regelmäßig den Eindruck, Schlüsselfiguren der Kulturszene
verständigten sich in einer Art Code, der so hermetisch ist, daß nicht einmal
die Eingeweihten selbst ihn verstehen; gleichwohl tut jeder unentwegt so, als
sei, im Gegenteil, alles sonnenklar und wunderbar paletti. Eine kleine
Verschwörung ist da anscheinend im Gange, welche die Verschworenen zur deutschen
Feuilletonelite zusammenschweißt. Motto: Die Hirnis verstehen sowieso nicht, daß
unser Gerede der reine Bullshit ist. Und die anderen machen einfach bei uns mit.
Schöne Grüße in diesem Zusammenhang auch an Peter von Becker.
Zum
Abschluß noch einmal zu Maxim Biller: Die Ungeheuerlichkeit des Holocausts
ist groß genug, um - auch bei den Nachgeborenen - ein fortdauerndes entsetztes
Wissenwollen und ein unverebbares Erschüttertsein zu erzeugen. Wer diese
Ungeheuerlichkeit gezielt ins Vergessen drängen will, ist entweder Ideologe oder
dem Stumpfsinn verfallen. Billers Text nun schafft es, das Vergessen dieser
Menschheitssünde - wenn auch ungezielt - zu befördern. Ärger und Langeweile ob
der grottenschlechten Schreibe gehen auf das behandelte Thema über.
Konditionierung nennt man diesen Vorgang im Fachjargon der Psychologen. Ein
halbes Dutzend solcher Abhandlungen, und der malträtierte Leser hat den Kanal
voll von Judenvernichtung etcetera, bis oben hin (gepriesen tausendfach sei
Klemperer). Und die gloreichen Herren Großrezensenten tragen eifrig ihr
Schärflein bei zu dieser, in unser aller Interesse doch wohl unerwünschten
Entwicklung.
Fritz Gimpl
AUSGABE 2 Dezember 1998
INHALTSVERZEICHNIS:
|