AUSGABE 2
Thomas Meinecke: Tomboy
Die Lektüre des Romans
'Tomboy' vermittelt den Eindruck, der Autor befinde sich, unter unentwegtem
Abwerfen von Sprachballast (der sein Fortkommen behindert), auf der panischen
Flucht vor einem Schwarzen Loch, das krakenhaft im Zentrum seiner
Thomas-Meinecke-Existenz sitzt und den Sinn all seines Tuns, besonders des
Schreibens, an sich ziehen und zunichte machen will. Doch je schneller er
davonrennt, der Herr Autor, je wilder er mit Vokabeln um sich wirft, desto
bedrohlicher rückt ihm das gefräßige Nichts auf den Pelz. Binnen kürzester Frist
- nach rund 20 Seiten - hat es ihn eingeholt und verschluckt. Spätestens ab da
wird der Text zum Härtetest für die Leidensfähigkeit des Lesers.
Allein
auf den ersten dreieinhalb Seiten seines neuesten Werkes bringt Thomas Meinecke
mehr als ein Dutzend fremdwörtlicher Wendungen unter, darunter die folgenden:
"textiler Euphemismus", "graduell verhüllende Funktion", "Legislative",
"tautologische Qualität", "kategorischer Stellenwert" (er meint vermutlich
'kategorialer Stellenwert'), "genetisch", "interrogativ formulieren",
"dekonstruktivistisch", "postlacanistisch", "Triade", kanonisierte Feminismen",
"misogyne Repliken".
Tickt der Junge nicht richtig?, frage ich mich
unwillkürlich. Hat der kein Abitur oder was und meint nun, profilneurotisch mit
Bildungszeugs protzen zu müssen? Nach dieser ersten jähen Erregung mache ich
mir aber bald, gesitteter, Gedanken über die Funktion von Fremdwörtern in einem
als 'Roman' gekennzeichneten Literaturprodukt. Und da fällt mir nur eine einzige
sinnvolle ein: Der Autor legt die Ausdrücke einer Romanfigur in den Mund, um
damit etwas zu zeigen, beispielsweise, welch bedauernswerte Existenzformen der
hemmungslose Gebrauch solcher standardisierter Sprechhülsen hervorbringt (und
umgekehrt), Existenzformen, deren Sprachverstand schon vor Jahren im geistigen
Brachland zwischen Olli-Dittrich-Sketchen, unverdauter Habermas-Lektüre und
Möllemann-Spontaninterviews auf der Strecke geblieben ist. Fehlt es an
dieser reflektierenden Distanz zu den eingesetzten Schauervokabeln, so schlägt
die vorangehende Qualifizierung voll auf den Autor durch.
Der übelste
Lapsus auf den besagten dreieinhalb Seiten ist die Verwendung des Wörtchens
'irritiert'. "Kaum hatte sie sich gesetzt, bemerkte sie irritiert..." heißt es
da. Dieses Wort - das man in Julia-Romanen, TV-Talkbuden, Lebensbeichten von
Vorstandssekretärinnen und anderswo bei jeder passenden und unpassenden
Gelegenheit um die Ohren gedroschen bekommt - ist zur Modechiffre für schlichte
Gemüter geworden, die sich gewählt ausdrücken wollen. Diese ausgelutschte,
stigmatisierte Vokabel gedankenlos in einen Text mit literarischem Anspruch
aufzunehmen, zeugt von der sprachlichen Empfindsamkeit eines, sagen wir,
Quastenflossers (nichts gegen das Tier!).
Andererseits findet sich eine
unbestreitbare Eloquenz an diesem Werk. Es hagelt und gewittert nur so von
Informationen, Zitaten, Anspielungen aller Art im Gewande glattgeschliffener,
luftdicht verfugter Sätze. Und diese Diskrepanz zwischen unterentwickeltem
Sprachgefühl und überbordender, technisch nahezu einwandfrei ausgelebter
Quasselwut ist vielleicht das Unerfreulichste, was der deutsche Literaturmarkt
derzeit zu bieten hat. Nervenaufreibende Quatscheratur.
Das Thema des
Buches, Geschlecht und Sex, wird im Verlauf von 250 Seiten gnadenlos zu Brei
geredet. Am Ende weiß man nicht, ob man Männlein oder Weiblein ist oder sein
möchte und was man da überhaupt gelesen hat. Aber darauf kommt es dem Autor auch
gar nicht an. Zu tun ist es ihm - dieses Gefühl beschleicht einen bei der
Lektüre - allein um die Pflege des Mythos "Thomas Meinecke - Großschreiber und
Zeitgeistdeuter von Gottes Gnaden im oberbayrischen Reduit". Und diesbezüglich
leistet die Pose des mit der Überfülle der unentwegt emfangenen Welteindrücke
schwer ringenden Geistesriesen, der sich freundlicherweise herbeiläßt,
Alltagsblödis wie dich und mich an seiner Herkulesarbeit (anderer Leute Hirne
zumisten) in Schriftform teilhaben zu lassen, erfahrungsgemäß die besten
Dienste. Unfehlbar wird - die Prophezeiung darf man getrost wagen - dem
versierten Geniedarsteller die Riege der Rezensentengimpel mehrheitlich auf den
Leim gehen ('boa ey, was der alles weiß, in wieviel Pötten der rührt, wo der
überall sein Hirnschmalz verbrät!'). Empirisch läßt sich indessen leicht zeigen,
daß folgender Zusammenhang gilt: Je weniger einem Autor einfällt, desto größere
Stoffmassen wälzt er herbei, um dem Leser (und sich selbst) das Gegenteil weiß
zu machen. Masse statt Klasse. Angesichts der gebotenen Materialmengen ist, so
muß man nun folgern, dem Verfasser dieses Romans herzlich wenig eingefallen, so
gut wie Nichts sozusagen. Und damit wäre, dramaturgisch korrekt, der Kreis zur
Eingangsbemerkung geschlossen.
Sal Baader
AUSGABE 2 Dezember 1998
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