AUSGABE 2
Klaus Böldl: Studie in Kristallbildung
Kürzlich wurde der 97er Tukan-Preis verliehen an den
vorstehend genannten Autor. Aus diesem Anlaß habe ich ein zweites Mal in das
(nunmehr prämierte) Werk geschaut, das ich bereits in die hinteren Bücheregale
absortiert hatte, um es nie wieder hervorzunehmen. Ich blätterte das schmale
Büchlein mißmutig auf und fand folgenden Kommentar auf dem allerersten Blatt,
den ich nach Abschluß der Lektüre eigenhändig angebracht haben muß: 'Über das
ganze Ding hinweg der Eindruck, bei dem Text handle es sich um
Formulierungsübungen eines Sprachunkundigen.' Du mußt dich irren, sagte ich
mir angesichts der Preisverleihung. Du hast zu flüchtig gelesen, vielleicht mit
allzu scheelem Blick auf einen Nachwuchsschreiber, der einen Verlag für seinen
Schmonzes gefunden hat und bejubelt wird, während du selbst nach wie vor für die
berüchtigte Schublade produzierst. Und kein Unseld weit und breit, der sich
deiner epochalen Manuskripte erbarmte. Derart sprach ich zu mir. Lies noch
einmal, sagte ich mir, und laß dich von der amtlich beglaubigten Preiswürdigkeit
des Werkes eines Besseren belehren.
Nun gut, ich tat, wie ich mir sagte.
Ich nahm das Buch hervor und las zunächst den auf der letzten Umschlagseite
aufgedruckten Text. Der lautete wie folgt: "Ich habe mich bemüht, die
Geschichte von dem Blutsee möglichst genau aufzuzeichnen. Sie gehört zu der
Sorte von Geschichten, über die ich gerne nachdenke. Geschichten, die vielleicht
nicht wirklich etwas zu bedeuten haben, aber gerade deswegen Erinnerungen und
Phantasien um sich anordnen wie ein Kristall."
An diesen drei Sätzen erstarb
meine Wiederleselust auf der Stelle. Wir wollen sehen, warum: Der erste Satz
machte mich stutzig ob der seltsamen Bekundung, die er enthält: "möglichst genau
aufzuzeichnen". Muß eine bare Selbstverständlichkeit wie diese ausdrücklich
verkündet werden? Wäre ein Schreiber vorstellbar, der das Gegenteil anstrebt
(nur dann hätte die obige Beteuerung einen Sinn)? Es keimt sofort der Verdacht,
hier werde Propaganda getrieben, das heißt, eine Genauigkeit behauptet, die dem
Autor gerade nicht gelungen ist (und exakt so verhält es sich mit diesem Buch,
möchte ich vorgreifend mitteilen).
Beim zweiten Satz fragte ich mich, was das
Wörtchen 'nachdenken' wohl zu bedeuten hätte. 'Eine Sorte von Geschichte, die
ich gern erzählt bekomme, gern weitererzähle, gerne selber erleben würde,
weil...' - dergleichen ließe ich mir gefallen. Aber 'nachdenken'? Was das heißen
könnte in diesem Zusammenhang, erschließt sich mir nicht.
Im dritten Satz
schließlich überfiel mich das blanke Grausen: 'Geschichten, die vielleicht n i c
h t w i r k l i c h etwas bedeuten...' Ja Herrschaftzeiten, wo sind wir denn
hier? An irgendeinem Literaturstammtisch, wo man ungestraft sich in den
abgedroschensten, sinnentleertesten Alltagswendungen ergehen darf? Wittgenstein
würde im Grabe rotieren. Weiter geht es: "...und gerade deswegen" (Kausalnexus
nicht nachvollziehbar; impliziert ohne erkennbare Evidenz, daß Geschichten, die
wirklich(?) etwas bedeuten, gerade n i c h t ...) "Erinnerungen und Phantasien
um sich anordnen wie ein Kristall." Blühender Blödsinn! Und der Kristall,
welcher da anordnet, muß das reine Wunderding sein, so echt mit Greiftentakeln,
die vorbeischwirrende Bilder und Gedanken an einen bestimmten Ort zerren und
festhalten können. Hier wäre der Akkusativ erwägenswert: einen Kristall. Dieses
Zusatzsilblein würde die Sache wenigstens halbwegs koscher machen und ich
bräuchte dem Schreiber nicht vorzuhalten, daß ein Kristall nicht die anordnende
Instanz sein kann, sondern nur das Ergebnis eines (von wem immer initiierten)
Anordnungsprozesses. Ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Doch auf
solche Feinheiten scheint es heutzutage, im Zeitalter des öffentlichen
Perma-Laberns, nicht mehr anzukommen. Also wird munter - gerade wie in den
untersuchten drei Sätzen - eine kleine Schludrigkeit an die andere gereiht, bis
dem Leser alle Bedeutung vor Augen verschwimmt. Was heute zählt bei Lektoren,
ist offenbar die hohe Gesinnung eines Autors, der hehre Kunstvorsatz. Und den
schwitzt jede Zeile des Werkes in öligen Worttropfen aus. Der Kunstvorsatz
möchte die hoffnungslose Verwaschenheit des Textes zum bewußt eingesetzten
Stilmittel verklären, welches das Unklare des menschlichen Daseins auf
kongeniale Weise zum Vorschein bringt. Aber wir husten dem Autor was! Mag er
andere Leute an der Nase herumführen mit seinen Tricks, Jury-Mitglieder zum
Beispiel. Uns nicht.
Schauen wir uns spaßeshalber noch die ersten
eineinhalb Sätze des Romans an, weil an ihnen sichtbar wird, daß der Autor nicht
nur Meister der filigranen Ungenauigkeit ist, sondern auch das grobe Foul aus
dem Effeff beherrscht. Wir dürfen zitieren: "Das erste, was in mein Blickfeld
geriet, war der Schnee, der in der Morgensonne glänzte, als sei er mit einer
Glasschicht überzogen. Ein Wanderer, der sich dort ins Gebirge hinauf verirrt
hätte, stellte ich mir vor, blieb unweigerlich mit den Sohlen an diesem
zuckrigen Schnee haften,..." Dem allgemeinen Verständnis nach ist eine
glasige Oberfläche das exakte Gegenteil einer zuckrigen. Oder? Wenn es denn aber
unbedingt zuckrig sein soll, dann können Sohlen keinesfalls haften bleiben am
Untergrund, allenfalls sinken sie ein, bleiben stecken, rutschen weg oder
dergleichen. Das pretiöse Bild stimmt hinten und vorne nicht. Und so ein Klops
gleich im Eröffnungsabsatz. Der Lektor muß die Passage mit geschlossenen Augen
gelesen haben. Und für den Rest des Werkes hat er dieselben erst gar nicht
wieder aufgemacht. Verständlich irgendwie, denn der Text ist wirklich nicht zum
Anschauen. So sagt man doch?
Juroren wenden sich vorzugsweise solchen
literarischen Angeboten zu, die ihren eigenen Prädispositionen entsprechen.
Angesichts dieses Axioms der Kommunikationswissenschaften muß man sich fragen,
was für Kameraden da in der Tukan-Jury hocken mögen. Zu ihren Gunsten will ich
annehmen, daß sie nicht selber lesen, sondern lesen lassen, vermutlich in
irgendeinem sprachlichen Entwicklungsland, Niederbayern zum Beispiel oder
Ostwestfalen, wo man es erstens nicht so genau nimmt mit der Genauigkeit (auch
wenn sie lauthals angekündigt ist), und wo zweitens das Schmerzensgeld für
quälend langweilige Lesefron noch bezahlbar ist.
In seinem gefälligen
Essay über die Infantilisierung der Hochkultur schreibt Eckhart Nickel (SZ vom
3. 1. 98; gepriesen sei er für seinen Mut zur Attacke!), die neuere
Schriftstellerei sei der "Sieg der begrenzten Fähigkeiten, die sich mit dem
Abschreiben ihrer kleinen Lebenswelt in Szene setzen." Ach, möchte ich rufen,
wenn es doch wenigstens ein veritables Abschreiben wäre, was diese
Böldl-Burschen liefern. Abschreiben hieße doch immerhin: getreu wiedergeben, was
ihnen geschieht und was sie denken. Damit wäre ich ja vollauf zufrieden. Selbst
den größten Schreibern kann der Leser kaum mehr abverlangen. Einen mit aller
Sorgfalt und Geisteskraft eröffneten Einblick in die Lebenswelt einer anderen
Existenz gewährt zu bekommen - was könnte ein Buch Großartigeres, Aufregenderes,
Mitreißenderes bieten? Es braucht für die 'große' Literatur eben keineswegs -
wie der flachsinnigste deutsche Großkritiker, MRR, und übrigens auch der
erwähnte SZ-Pamphletier implizit, meint - ein 'großes' Leben (im Sinne
welterschütternder Ereignisse). Ein 'kleines' Leben genügt vollauf, solange nur
(tatsächlich) genau hingedacht und exakt beschrieben wird. Was aber die
Böldl-Fraktion unter den Schreibern (und sie ist groß) daherbringt, ist eben
kein getreues Abschreiben ihrer kleinen Existenzen, sondern bestenfalls die
Wiedergabe ihrer gesammelten Vorurteile über die Welt, schlimmstenfalls ein zu
Papier gebrachtes Sammelsurium frei floatender Erlebnis- und Denkpartikel, die -
mangels Durchdringungskraft, Einfühlungsvermögen und Wahrheitssehnsucht - einzig
danach ausgesucht sind, wie gut sie die Illusion befestigen können, ein
hochmögender Autor und Künstler zu sein. Und dazu wird eben bevorzugt das
Raunende, Unklare, Schwafelhafte verwendet.
Fritz Gimpl
AUSGABE 2 Dezember 1998
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