Close Reading und Rezeptionsgeschichte.
Hrsg., komm.: Wolfgang Müller-Funk.
Göttingen: V&R unipress; Vienna University Press 2016.
(Sigmund Freuds Werke. 3).
125 S.; brosch.; Euro (A) 25.80.
ISBN 9-783-84710-641-8.
Sigmunds Freuds Das Unbehagen in der Kultur, 1930 im Wiener Psychoanalytischen Verlag erschienen, gilt als eine seiner schwierigsten Schriften. Nichtsdestotrotz – oder gerade deswegen – kann die Abhandlung auf eine reiche Editionsgeschichte zurückblicken, die mit dem vorliegenden Band im Rahmen der Reihe Sigmund Freuds Werke. Wiener Interdisziplinäre Kommentare fortgesetzt wird.
Die Reihe, in der bereits Totem und Tabu (2013) sowie Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (2015) neu herausgegeben wurden, hat es sich zum Ziel gesetzt, Freuds Werk hinsichtlich seiner Aktualität im interdisziplinären Diskurs und in seinem zeitgenössischen Wiener Kontext zu verorten. Dieses Vorhaben einer Gruppe von WissenschaftlerInnen verschiedener Wiener Forschungseinrichtungen in Verbindung mit dem Sigmund Freud Museum ist insbesondere für den vorliegenden Text sehr zu begrüßen, blieb Das Unbehagen in der Kultur doch im Rahmen der Kulturwissenschaften, in denen psychoanalytische Perspektiven durchaus eine gewichtige Rolle spielen, bisher eher unterbelichtet.
Die Gründe dafür beleuchtet der Herausgeber Wolfgang Müller-Funk in seiner gut 40-seitigen Einführung (S. 7-44); Freuds Text (S. 51-110) wird in der um Druckfehler bereinigten Version der Ausgabe der Gesammelten Schriften (Bd. XII, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1934) und der denselben Seitenspiegel aufweisenden der Gesammelten Werke (Bd. XIV, Imago Publishing, London 1948) wiedergegeben.
Müller-Funk unternimmt ein Close-Reading des Textes, erläutert dessen Entstehungsgeschichte sowie zentrale – oftmals widersprüchliche – Konzepte und geht auch auf die verschlungene Rezeptionsgeschichte von Freuds Kulturtheorie ein, die er ausführlich ab 1955 nachzeichnet. In diesem Jahr ist Herbert Marcuses Buch Eros and Civilisation erschienen, das den von Müller-Funk als "freudomarxistisch" (S. 16) bezeichneten Diskurs um den Dreh- und Angelpunkt der freudschen Kulturtheorie eröffnet hat: "Kultur ist […] ein ambivalenter Gesamtkomplex, etwas, das Leiden dämpft, aber dadurch wiederum Unbehagen generiert. Die metapolitische Austarierung dieses Gegensatzes bildet gleichsam den Horizont des Freudschen Textes und macht dessen lebensphilosophische Dimension sichtbar." (S. 16)
Auch wenn es unzählige Bezugnahmen auf Freuds kulturtheoretisches Werk gibt, sind jene Texte, die sich ausschließlich dem Unbehagen in der Kultur widmen, rar. Mit Bernhard Görlichs Die Wette mit Freud. Drei Studien zu Herbert Marcuse (1991), Raúl Páramo-Ortegas Das Unbehagen an der Kultur (1985), Johann August Schüleins Das Gesellschaftsbild der Freudschen Theorie (1975) und Die Logik der Psychoanalyse. Eine erkenntnistheoretische Studie (1999), Moshe Halevi Speros Aufsatz The Civilization of Discontent (2008), dem von Franz Kaltenbeck und Peter Weibel herausgegebenen Sammelband Sigmund Freud. Immer noch Unbehagen in der Kultur (2009) sowie Zygmunt Baumanns Das Unbehagen in der Postmoderne (1999) stellt Müller-Funk die wichtigsten Beispiele vor.
Die Ursachen für den ungeklärten Status von Freuds Kulturtheorie im internationalen kulturwissenschaftlichen Diskurs macht Müller-Funk plausibel nachvollziehbar, indem er in einer präzisen und dabei auch sehr kritischen Lesart die Brüche in Freuds Text offenlegt. So vertritt Freud etwa eine normative Auffassung von Kultur in der Tradition des deutschen Idealismus der Spätaufklärung. Sein Kulturbegriff rückt in die Nähe des Begriffs der "Zivilisation", die Kultur eher im Sinne einer Einschränkung von Freiheit denn als deren Ermöglichung ansieht. Doch auch wenn dieser pragmatische Kulturbegriff in Freuds gesamtem Text tragend ist, umfasst er doch nicht alle Überlegungen Freuds zu diesem Thema: Denn es existiert bei ihm auch die Vorstellung von Kultur als symbolischem Prozess individuellen oder kollektiven Erinnerns, die heute im Gefolge des cultural turn von Bedeutung ist, man denke nur an das Thema der "fortwirkenden Macht des Erlebnisses", das von der Philosophie Jacques Derridas aufgegriffen und zu ihrem Kernthema gemacht wurde (Die Schrift und die Differenz,1972). Und auch Freuds Hypothese von Kultur als kompensatorischem Hilfsprogramm deckt sich nicht mit einer binären Kulturauffassung, die erst heute systematisch hinterfragt und revidiert wurde und wird. So ist Freuds praktischer Kulturbegriff von der Vorstellung von Einschränkung und Unterwerfung geprägt; sein enger und exklusiver Kulturbegriff indes identifiziert Kultur mit der Gesamtheit der schönen Künste als einer Welt des schönen Scheins (wo durchaus Ähnlichkeiten mit der Ästhetik von Marx festzustellen sind), die sowohl Kunstschaffenden als auch dem Publikum eine Sublimierung ihres Trieblebens gestattet. Und darüber hinaus spielt auch der heute gültige ubiquitäre Kulturbegriff bei Freud eine Rolle – Ernst Cassirers umfangreiches Werk Die Philosophie der symbolischen Formen (1923-29) erschien im selben Jahrzehnt wie Freuds kulturtheoretische Hauptwerke (Die Zukunft einer Illusion, Das Unbehagen in der Kultur) –, wenn dieser auch in seinem Werk nicht zu einer durchschlagenden Wirkung geführt hat.
Neben der Offenlegung von Freuds theoretischen Hintergründen und seinen Bezugnahmen auf kulturanthropologische Befunde betont Müller-Funk dessen bewusst angewandte Verfahren auf stilistischer Ebene. Freuds innovative Verwendung von Metaphern, sein extensiver Gebrauch literarischer Zitate, die Anreden an die Leserschaft, Techniken überraschender Pointierung, Anspielungen und Implikationen sowie die Zurschaustellung des sprachlich-argumentativen Duktus machen den so solide wie originell komponierten Text zu einem "Meisterstück" (S. 8) mit einer "genuin literarische[n] Qualität" (S. 25). Die narrative Leistung von Freud veranschaulicht Müller-Funk mit dem poststrukturalistischen Ansatz der "Emplotments" des amerikanischen Historikers und Literaturwissenschaftlers Hayden White (Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, 1991): So ist Das Unbehagen in der Kultur zum einen die große Erzählung vom Fortschritt der Kultur als Prozess der Eindämmung destruktiver und übermäßiger Begierden, zum anderen ist ihr aber auch eine tragische Erzählanordnung eingeschrieben, in der der Zwiespalt von individuellem Begehren und kollektiver Versagung eine Rolle spielt: "Kultur ist das Kind der Resignation und zugleich der nicht endende Schrecken der Erinnerung." (S. 44)
In seinem klar strukturierten Einleitungsessay gelingt es Müller-Funk auf anregende Weise, der Komplexität des freudschen Textes und seiner Rezeptionsgeschichte auf die Spur zu kommen und die unterschiedlichen Positionen, Stimmen, Fokalisierungen und Erzählstränge zu verdeutlichen. Wenn RezensentInnen, so wie hier, nur loben können, neigen sie zu Beckmessereien und suchen fieberhaft, zumindest nach Druckfehlern. Diese treten hier zwar nur spärlich auf, geraten jedoch leider tatsächlich zu einem kleinen Ärgernis, da sie im psychoanalytischen Diskurs recht prominente Begriffe betreffen. In einer Freud-Publikation über "Toten und Tabu" (S. 8, 23) sowie "Eos" (S. 32) zu stolpern, schmerzt nicht nur im Auge, sondern auch in der Seele der Germanistin. Diese minimalen Mängel schmälern jedoch keineswegs den positiven Gesamteindruck dieser verdienstvollen Neuedition von Freuds kulturtheoretischer Schrift, die für aktuelle kulturwissenschaftliche Diskurse mannigfache Anknüpfungspunkte und interessante Perspektiven bietet.
Veronika Hofeneder
13. März 2017