Sieben Essays zu W. G. Sebald.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2019.
275 Seiten, geb., 7 s/w Abb., 30 Euro.
ISBN 9783412513818.
Der Fortschrittsverweigerer W.G. Sebald, dem "Bleistift, Schreibmaschine und Telefon" (S. 140) als die einzigen technischen Hilfsmittel in seinem Büro an der University of East Anglia in Norwich dienten, war nicht über E-Mail kontaktierbar, denn er verweigerte die Arbeit am PC, die ihm ein "neoliberales Regime", als das er die universitären Strukturen seit den mit Margaret Thatcher eingeführten Reformen weitgehend empfand, diktierte. Erreichbar blieb er "by pigeon-hole only" und diese mag man bei der Lektüre als den Dreh- und Angelpunkt von Uwe Schüttes Annäherungen. Sieben Essays zu W.G. Sebald lesen: verweist doch "pigeon-hole" einerseits auf ein Brief- oder Zettelfach, andererseits bedeutet es im übertragenen Sinn, jemanden ungerechtfertigt in eine bestimmte Schublade einzuordnen bzw. ihn abzustempeln. Und dies sieht Schütte, der bereits in einem 2016 erschienen Sammelband darum bemüht war, ein anderes Bild des Autors zu zeichnen, als ein eminentes Problem, nicht nur in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung, sondern auch in der künstlerischen – v. a. intermedialen – Rezeption Sebalds seit dessen frühem Tod im Jahr 2001. Das einzementierte Narrativ von Sebald als "prime speaker of the Holocaust", jene Festschreibung, gegen die sich Sebald bereits zu Lebzeiten verwehrte, empfindet Schütte als "billige Rezeptionsformel" (S. 238) und setzt diesem Diktum ein vielseitiges, lebendigeres und oft überraschendes Bild entgegen.
Intention des vorliegenden Essaybandes ist es, eben gegen die "einseitige Deformation" (S. 257) des Sebald'schen Werks anzuschreiben, darüber hinaus versteht sich das Buch als notwendiges Korrektiv, da immer noch zahlreiche Irrtümer hinsichtlich Biographie und Werk kursieren. Schütte will aber nicht ein endgültiges Bild zeichnen, sondern eben vielmehr "Annäherungen", aufgefächert in einem bemerkenswerten Spektrum an Themen, wagen.
Als ausgewiesener Experte und fundierter Kenner umfassen Schüttes unzählige Publikationen zu Sebald Monographien in Form eines Einführungsbandes (2011) und eines Bandes zur Lyrik (2013) bis hin zu einer Habilitation über Sebalds Literaturkritik (2014). Es ist Schütte hoch anzurechnen, dass er mit dem vorliegenden Buch, das sich als Festgabe zu Sebalds 75. Geburtstag im letzten Jahr versteht, keine Biographie verfasst hat, sondern, um mit Roland Barthes zu sprechen, zahlreiche "Biographeme" des Schriftstellers versammelt, welche neue Zusammenhänge, Verknüpfungen, Perspektiven und Interpretationen des Werkes aufzeigen. Schütte hat auch im Deutschen Literaturarchiv Marbach recherchiert, wo der "nachlassbewusste" Sebald seine Dokumente – als Kafka-Kenner war er mit der Nachlass-Problematik vertraut – "präpariert" der Nachwelt hinterlassen hat. Die Form des Essays hat Schütte hier bewusst als Reminiszenz an den Schriftsteller Sebald gewählt, ebenso nähern sich die den einzelnen Kapiteln vorangestellten Fotografien der literarischen Praxis Sebalds an. Die einzelnen Essays umkreisen Begriffe wie "Heimat", "Großvater", "Bäume", "Universität", "Tiere", "Feuer" und "Nachruhm", die sich als anschlussfähig für weitere Forschungen zu Sebald erweisen werden. Dabei wird deutlich, dass Sebalds Werk auch ökologische Themen wie "Global warming" (vgl. S. 201) und "Lichtverschmutzung" (vgl. S. 204) berührt, die er bereits sehr früh erkannt, beobachtet und problematisiert hat. Die Bedeutung des Großvaters Josef Egelhofer, der dem Enkel die "Mysterien der Natur" und damit die Faszination für vorwissenschaftliche "Denksysteme" vermittelte (S. 47), sowie Sebalds damit einhergehende Passion für "metaphysische Spekulationen" (S. 205) analysiert Schütte en détail. Überraschend sind auch das Bild des Humoristen Sebald, welches jenes des Melancholikers konterkariert (S. 256 ff.), und die breite Resonanz Sebalds im zeitgenössischen Pop, z. B. bei Patti Smith (S. 248 ff.). Neben diesen neuen Zugängen zum Werk Sebalds werden mit der Quantentheorie auch interdisziplinäre Ansätze ins Spiel gebracht: die Heisenberg'sche Unschärferelation koppelt Schütte überzeugend an Sebalds Geschichtsdenken: "Er blickt 'unscharf' auf die Gesamtheit des Gegebenen, und genau deshalb vermag er zu sehen, was ansonsten unsichtbar bleibt." (S. 214)
Fundiert sind die Essays insbesondere auch hinsichtlich der biographischen Kontexte, die Schütte behutsam entfaltet. Der Persönlichkeit Sebalds kommt die Leserin bzw. der Leser über eine autobiografische Ebene, die teilweise ins Anekdotische mündet, insofern nahe, als Schütte von seiner Zeit als Sebalds Doktorand in East Anglia und seiner Beziehung zum Doktorvater erzählt, was aber keinesfalls im Ausplaudern von Intima des geschätzten, aber kritikfähigen Doktorvaters mündet. Vielmehr werden Facetten der Persönlichkeit und – Schütte bleibt hier nie einen Beleg schuldig – auch des Werks aufgezeigt. Trotz dieser Nähe spart Schütte nicht mit stets respektvoller Kritik, z. B. hinsichtlich des für den Nachruhm bedeutsamen, aber von "affirmative(n) Fehleinschätzung(en)" (S. 231) getragenen "Romans" Austerlitz (2001). An solchen Passagen zeigt sich auch Schüttes Lust am Widerspruch. Den stromlinienförmigen Interpretationen der Literaturwissenschaft, deren ewig gleiche Ansätze er als einseitig und redundant empfindet, setzt er widerständige und eigensinnige Lektüren entgegen.
Schütte scheut nicht davor zurück, auch jene Elemente des Werks zu thematisieren, die, wie etwa Sebalds Vergleiche von Massentierhaltung und Holocaust, als Invektive empfunden wurden, und stellt diese in den breiteren Kontext des Gesamtwerks. Dabei wäre es Sebald freilich nie darum gegangen, den "Genozid am europäischen Judentum irgendwie zu relativieren. Vielmehr wollte er unseren herzlosen Umgang mit Tieren aufs Schärfste verurteilen (…)." (S. 148) Jene Kategorien des "Kreatürlichen" und der "Fürsprech der Kreatur", die Sebald aus Walter Benjamins Essay Der Erzähler übernommen hat, versucht Schütte vor dem Komplex der "umfassenden Naturgeschichte der Zerstörung" (S. 176) einzuordnen. Dabei geraten Motten, Seidenrauben, Heringe und Hühner aller Art, für die Sebald eine Vorliebe hatte (vgl. S. 166), in den Vordergrund: seine "Verkettung von Tier und Genozid, Hering und Holocaust" wird lesbar als eine "Verkettung, mit der (…) ein offiziell unstatthafter, dafür aber umso eigensinniger Zusammenhang hergestellt wird." (S. 175)
Der Verknüpfung von Biographie und Werk – eine von Sebald in seiner literaturwissenschaftlichen und -kritischen Arbeiten oft erprobte, von Fachkollegen heftig kritisierten Methode – bedient sich auch Schütte, selbst wenn ihm, wie er im Nachwort anmerkt, die "kategorialen Unterschiede zwischen Privatperson, Autor und Erzähler" (S. 270) bekannt seien, habe er sie flexibel gehandhabt, da das Buch sich auch an Leserinnen und Leser außerhalb der Universitäten richte. Getrost sei dem Autor dieses Buchs ein Bonmot von Roman Jakobson aus den 1930er Jahren an die Seite gestellt, dass nämlich ein vehementer "Antibiographismus nur der umgestülpte Gemeinplatz des vulgären Biographismus" sei.
Schüttes Essays verdeutlichen, dass die Beschäftigung mit Sebalds Prosa noch lange nicht abgeschlossen ist und Lektüren jenseits der Vereinnahmung durch die Gedenkkultur (vgl. S. 239) möglich sind: mannigfaltige Spuren sind auszumachen in den Texten und es sind eben gerade auch dann Funde möglich, wenn Sebalds Prosa "à rebours" gelesen wird: "Sebalds Bücher (…) verlangen nach 'ungehorsamen' Lesern. Denn sie sind angelegt, unter aufmerksamen Lesern eine solch ungehorsame Lektüre zu provozieren wie zu belohnen." (S. 267)
Stefan Maurer
27. 03. 2020