Todesfuge. Biographie eines Gedichts. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2020. geb; 333 S.; EUR 22,70 (A); ISBN 930-3-421-04787-8
Verzweifelt und zutiefst verletzt klagt Paul Celan in einem Brief vom 12. November 1959 an Ingeborg Bachmann über eine von ihm als hämisch herabwürdigend empfundene Kritik an der Todesfuge von Günter Blöcker. Und er fühlt sich im Stich gelassen von der geliebten Freundin, die nicht Partei für ihn ergriffen hat, wiewohl ihr die außergewöhnliche, existentielle Bedeutung des Gedichts für ihn bewusst sein sollte. Er appelliert daher an sie, sich zu „erinnern“, dass er in diesem Gedicht „eine Grabschrift und ein Grab“ sieht: „Auch meine Mutter hat nur dieses Grab“" (I. B./P. C.: Herzzeit. Der Briefwechsel. 2008, S. 127, zit. nach S. 187 f., Unterstr. im Orig.) – ein „Grab in den Lüften“, wie es im Gedicht heißt. Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung, die er der Todesfuge zuschreibt, werden seine Reaktionen auf ihm unangemessen erscheinende Kritiken ebenso verständlich wie sein Gefühl des steten Bedrohtseins. Eingeschrieben sind dem Gedicht das Trauma der Ermordung seiner Eltern durch die Nationalsozialisten und das Schuldgefühl, selbst überlebt zu haben, sowie – was auch zu beachten wäre – die Unmöglichkeit, an einer Grabstätte der Eltern zu trauern und der traditionellen jüdischen Sitte des Steine-auf-das-Grab-Legens Genüge zu tun. Dass die vorliegende, ungewöhnlicher Weise als „Biographie eines Gedichts“ bezeichnete Monographie der persönlichen Verletzlichkeit Celans Rechnung trägt, ist selbstverständlich. Sparr schreibt allerdings dem Gedicht eine umfassendere Bedeutung zu, sieht er doch über den poetischen Ausdruck der seelischen Belastung des Dichters hinaus in der Todesfuge „ein Gedicht, das die grundlegende Erfahrung des 20. Jahrhunderts in sich aufnimmt und weitergibt“ (S. 9). Er vertritt nachdrücklich die Auffassung, dass das Gedicht das Reden über die Verbrechen der Nationalsozialisten, über „Auschwitz“, „Holocaust“, „Shoah“ entscheidend mitgeprägt hat und dass es unter anderem argumentativ ins Treffen geführt wurde gegen Theodor W. Adornos berühmtes, wohl auch als Generalverdacht missverstandenes Verdikt, Lyrik zu verfassen grenze nach Auschwitz an Barbarei. Der von einigen Kritikern wie dem oben angesprochenen Günter Blöcker 1959 in einer Rezension des Gedichtbandes Sprachgitter im „Tagesspiegel“ erhobene, latent antisemitische Vorwurf, die Schönheit beziehungsweise rhetorische Brillanz der Todesfuge – Blöcker spricht von „kontrapunktische[n] Exerzitien“ ohne „Wirklichkeitsbezug“ (S. 180) – sei dem Thema unangemessen, hat Celan zutiefst getroffen, versteht er doch das Gedicht, wie gesagt, als Epitaph für seine von den Nazis ermordeten Eltern, im besonderen für seine Mutter. Die ästhetische Qualität bedeutet denn auch keineswegs – wogegen sich Adorno wenden würde – eine Beschönigung der nationalsozialistischen Verbrechen. Vielmehr folgt Sparr Hans Mayer, der in seiner Erinnerung an Paul Celan von 1971 die bedeutsame Beobachtung gemacht hat, dass alles von Celan bedrohlich Wahrgenommene „in jedem Augenblick virulent“ (zit. nach S. 283) ist. Sparr spricht treffend vom „Modus einer unabgeschlossenen Gegenwart oder genauer: einer nicht abschließbaren Vergangenheit, [der] das Tempus der ,Todesfuge‘, ihre Gegenwart“ (ebda), bestimmt.
Die Gattungsbezeichnung „Biographie eines Gedichts“ irritiert. Der Biograph begründet die Genrezuordnung durchaus überzeugend damit, dass an „Knotenpunkten“ (12) der Lebensgeschichte des Dichters explizite wie implizite Bezüge auf die Todesfuge zu beobachten sind, ja dass Celan gewissermaßen an der Todesfuge weiterschreibe, besonders etwa in den Gedichten Engführung und Wolfsbohne. Dementsprechend konzentriert sich Sparr nicht auf die Interpretation und nicht nur auf die Entstehungsgeschichte der Todesfuge, vielmehr auf die Kontexte der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Gedichts. Er legt eine Zusammenschau der Biographie des Gedichts sowie der des Dichters vor.
Charakteristisch für Celan sei, so Sparr, eine „Poetik der Orte und Daten“ (S. 12). In erster Linie zu nennen ist das unbestrittene Schlüsseldatum, von dem sich der Dichter herschreibt, der 20. Jänner 1942, jener Tag, an dem in der sogenannten „Wannsee-Konferenz“ bekanntlich die systematische Ausrottung der europäischen Juden und in deren Folge auch die Vernichtung seiner Eltern beschlossen wurde. Gewissermaßen als Entsprechung zu „Celans Poetik der Orte und Daten“ führen in der vorliegenden Monographie mit Ausnahme des ersten und letzten alle Kapitel jeweils eine Orts- und eine Jahrgangsangabe im Titel. Die Überschrift des ersten Kapitels, „Die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme“ (S. 15), gemeint ist die Bukowina, zitiert aus der Dankrede des Dichters anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises von 1958, das abschließende Kapitel erhebt mit seinem Titel „Das Jahrhundert Paul Celans“ einen hohen Anspruch, bietet Zusammenfassung und Ausblick, eine kurze Überschau über die Rezeption der Todesfuge im nicht deutschsprachigen Raum sowie in den bildenden Künsten und in der Musik (vgl. 281).
Als Sehnsuchtsort Celans kann schon früh Paris gelten. Im November 1938 reist er erstmals nach Frankreich, um Vorbereitungen für ein Medizinstudium zu treffen. Bei der Zwischenstation in Berlin macht er die Erfahrung von „Pogromstimmung“ (S. 38), die den sensiblen 18-Jährigen nachhaltig belastet und wohl seine depressive Grundstimmung verstärkt hat, von der sein Muttertagsbrief von 1939 zeugt (vgl. S. 40). Noch dem Gedicht La Contrescarpe aus dem 1963 erschienenen Band Die Niemandsrose ist diese Pogrom-Wahrnehmung als Vorwegerfahrung der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten eingeschrieben: „Über Krakau / bist du gekommen, am Anhalter / Bahnhof / floß deinen Blicken ein Rauch zu, der war schon von morgen“. Dieses Morgen lässt Sparr auch das Gedicht La Contrescarpe als Weiterschreiben an der Todesfuge verstehen, meint es doch die 1941/42 reihenweise erfolgten Erschießungen jüdischer Bürger in und Deportationen aus Czernowitz, denen auch die Eltern Celans im transnistrischen Lager Michailowka zum Opfer fallen. Der Vater stirbt an Typhus, die Mutter wird erschossen. In der Todesfuge sieht der Dichter, wie eingangs zitiert, ihr „Grab“. Das 1947 erstmals in rumänischer Sprache veröffentlichte Gedicht sollte ursprünglich den Titel „Todestango“ erhalten, bezugnehmend auf einen Bericht aus dem Lager Janowska, demzufolge ein „Todestango“ als Begleitmusik bei „Erschießungen“ (S. 61, kursiv im Orig.) fungierte. Ein Mehr an Realitätsbezug – dies gegen Blöcker gesagt – ist kaum möglich.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs verlässt Celan Czernowitz. Sein Weg nach Paris führt ihn zuerst für zweieinhalb Jahre in die rumänische Hauptstadt: Mit „Bukarest 1945“ verbinden sich zahlreiche Kontakte mit Kulturschaffenden, insbesondere mit Alfred Margul-Sperber, seinem „Förderer und enge[n] Freund“ (S. 74), dessen Empfehlungen ihn nach Wien und Paris begleiteten. Bukarest wie auch Wien, wo er 1947 wenige Monate verbrachte, verstand Celan zwar nur als Zwischenstationen, gleichwohl gesteht Sparr diesen eine nicht unwesentliche Bedeutung zu für die literarische Entwicklung des Autors, seine Emanzipation von surrealistischen Einflüssen und die Gewinnung eines eigenen poetischen Ausdrucks sowie seinen Durchbruch dank Publikationsmöglichkeiten im „Plan“, in den „Stimmen der Gegenwart“ und mit dem Lyrikband Der Sand aus den Urnen, den er allerdings wegen gehäufter Fehler einstampfen ließ. Nicht zuletzt ist es die Todesfuge, die hier wie dort veröffentlich wird und fasziniert. In Wien lernt Celan Ingeborg Bachmann kennen und lieben. In der Beziehung zu ihr ist die Todesfuge von „herausgehobene[r] Bedeutung“ (S. 94). Wie eingangs zitiert, wird er sie in einer Notsituation daran erinnern.
Ein zwar kurzer, für Celan jedoch nicht unbedeutender Stopp auf der Durchreise nach Paris führt den Dichter in Innsbruck zu einer Lesung in das Haus des Trakl-Förderers Ludwig von Ficker, bei der er unter anderem die Todesfuge vorträgt. Der Gastgeber erkennt wohl als „einer der ersten Hörer und Leser“ (S. 99), jedenfalls zur Freude Celans in dessen Gedichten das „Jüdische“ (S. 98). Es sollte aus der Sicht des Dichters eine der wenigen angemessenen Reaktionen auf die Todesfuge bleiben. Ludwig von Ficker stellt ihn in die „Tradition von Trakl“ (ebda). Nach einer späteren Lektüre von dessen Psalm bewegt den Dichter der Vers „In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen“ zu dem lapidaren Kommentar: „Seltsam! vgl. Todesfuge“ (S. 99).
In Paris erlebt der Dichter Höhen und Tiefen, interessante Begegnungen mit anderen Autoren, aber auch Schwierigkeiten, den Lebensunterhalt zu finanzieren. 1951 lernte er Gisèle Lestrange kennen, heiratete sie 1952 gegen den Willen ihrer Eltern, die Celan - in ihren Augen Ausländer, Jude und mittelloser Poet - demütigen. Dass die Ehe aufgrund der psychischen Probleme Celans belastet war, verrät der 2001 veröffentlichte Briefwechsel der beiden. Neben der Ehe pflegte der Autor zahlreiche Liebschaften, von denen Sparr die langjährige Beziehung zu Brigitta Eisenreich hervorhebt, die – aus der „österreichischen Sprachwelt“ kommend – „buchstäblich seine Muttersprache“ (S. 120) und mit ihr Kindheitserinnerungen lebendig werden ließ. Eisenreich war ebenso wie die Celan freundschaftlich verbundene Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz von der Todesfuge berührt. Kaschnitz reagiert in ihrer Erzählung Die Abreise (1950) sensibel auf die im Gedicht evozierten Schrecken der Judenvernichtung. Diese Erzählung ist „das erste deutlich erkennbare Zeugnis der Rezeption der ‚Todesfuge‘ in Deutschland“ (S. 108). Als Zeichen der bleibenden Zuneigung wird Kaschnitz 1960 bei der Verleihung des Büchnerpreises an Celan die Laudatio auf ihn halten.
Im Gegensatz zur Wertschätzung, die Celan bei Kaschnitz findet, stößt er mit seinen Gedichten, besonders mit der Todesfuge, bei seiner Lesung vor der Gruppe 47 in Niendorf 1952 auf wenig Verständnis, muss die Demütigung hinnehmen, dass seine Vortragsweise mit der von Goebbels verglichen wird. Sparr dazu lapidar: „Goebbels rezitiert die ‚Todesfuge‘. Brutaler kann man die Geschichte nicht auf den Kopf stellen.“ (S. 130) Celan reagiert auf diese Ungeheuerlichkeit und nicht nur auf diese sowie auf Kritik allgemein sensibel. Die wenigsten Auseinandersetzungen mit der Todesfuge werden dieser und vor allem dem Anspruch des Dichters gerecht. Blöckers Rezension von 1959 wurde erwähnt. Sie hatte zur Folge, dass Celan sein bedeutendstes Gedicht bei keiner Lesung mehr vortrug. Zwar sehr hoch eingeschätzt hat die Todesfuge schon 1954 Hans Egon Holthusen, dessen Urteil damals durchaus Gewicht hatte. Allerdings höchst problematisch ist seine enthistorisierende Lesart, verweist sie doch das Gedicht „in den Äther der reinen Poesie“ (S. 143).
Celans Lyrik und im besonderen die Todesfuge wurden schon früh in viele Sprachen, ins Englische, Hebräische, Französische, Katalanische, Spanische, Ungarische, Russische u.a. übersetzt. Bereits Mitte der 1950er Jahre erschienen in den USA zwei möglicherweise – so Sparr – von Holthusen angeregte Übersetzungen, die im Gegensatz zu dessen Sicht das Gedicht „politisch verstanden“ (S. 150) wissen wollen. Unter den zahlreichen Zeugnissen der Rezeption und Wirkung der Todesfuge im nicht deutschsprachigen, hebt Sparr zurecht den Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind von Imre Kertész hervor, weil der Nobelpreisträger von 2002 in seinem Roman nicht nur Celan zitiert, sondern mit seinem Werk geradezu eine „‚Todesfuge‘ in Prosa“ (S. 197) verfasst. Irene Heidelberger-Leonards Kertész-Monographie folgend hält Sparr fest: „Es ist ein einziger langer Monolog, eine Klage, ohne Unterbrechung und darin der ‚Todesfuge‘ verwandt“ (S. 196). Dieser intertextuelle Bezug ist insofern von besonderem Gewicht, als „Kertész [...] dem Gedicht in seiner Aneignung wie vor allem seiner Verwandlung eine einzigartige neue Gestalt gegeben“ (S. 197) hat.
Besonders getroffen haben Celan die Plagiatsvorwürfe von Claire Goll, die einer sachlichen Prüfung nicht standhalten. Nichts Neues ist zu sagen davon, Sparr tut die Angelegenheit ab mit der Vermutung, dass verschmähte Liebe als Ursache des Hasses der Witwe Yvan Golls auf den 30 Jahre jüngeren Dichter angesehen werden kann. Es sollte nicht der einzige Plagiatsverdacht bleiben. Schon in seiner Schulzeit begann Celan zu dichten und pflegte intensive Freundschaften mit anderen literarisch Ambitionierten wie beispielsweise besonderes intensiv mit dem Schulkollegen Immanuel Weissglas. Dessen Gedicht ER mit seinen unübersehbaren Motivähnlichkeiten zur Todesfuge wurde gegen diese ausgespielt, wiewohl Celans Gedicht vor jenem des Freundes veröffentlicht wurde. Und selbst wenn Celan das Gedicht des Freundes „paraphrasiert“ (S. 256) haben sollte, sähe Sparr darin kein Infragestellen der Originalität der Todesfuge, vielmehr ein Dichten vor dem selben Erfahrungshorizont. Als Zeugen dafür zitiert Sparr den Jugendfreund Celans und späteren Kunsthistoriker Moshe Barash, der der Todesfuge „erschreckende Genauigkeit“ (S. 69) attestiert. „Allzu kunstvoll, zu vollendet“ (S. 66) findet das Gedicht hingegen Alfred Kittner, auch ein Jugendfreund, dem die Klage von Moses Rosenkranz, einem weiteren Czernowitzer Dichter, dem Thema „angemessener erschien“ (ebda). Alle Texte, die Ähnlichkeiten zu Celans Gedicht aufweisen, einschließlich Kittners Schule des Todes (S. 67), stimmen in der Motivwahl mehr oder weniger mit der Todesfuge überein, sind aber vergleichsweise von ästhetischer Leichtgewichtigkeit.
Ein Jahr vor seinem Tod wurde Celan zu drei Lesungen nach Israel eingeladen. Zweifelsohne nimmt jene in Jerusalem für den Dichter eine Sonderstellung ein. Sie stieß auf großes Interesse eines breit gestreuten Publikums, für das sie insofern auch eine Besonderheit darstellte, als Vorträge und Lesungen in deutscher Sprache selten und umstritten waren. Die Todesfuge trug Celan – wiewohl darum gebeten – auch in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa nicht vor. Nichtsdestoweniger war „in Jerusalem das nicht gelesene Gedicht“ (S. 247) präsent, war es doch im Gespräch über verschiedene Bemühungen um eine adäquate Übersetzung ins Hebräische.
Im März 1970, also nur wenige Wochen vor seinem Suizid, nahm Celan in Stuttgart an einer Tagung der Hölderlin-Gesellschaft teil, bei der er zum letzten Mal vor größerem Publikum öffentlich auftrat und Gedichte aus dem Band Lichtzwang vortrug. Es folgte dann noch im Haus des Freiburger Germanisten Gerhard Baumann eine Lesung in kleinem Rahmen. Dabei kommt es zur zweiten, für Celan enttäuschenden Begegnung mit dem Philosophen Martin Heidegger, der ein Gespräch über seine Verstrickungen in den Nationalsozialismus vermied. Im Gedicht Todtnauberg verleiht der Dichter seiner „Hoffnung [...] / auf eines Denkenden / kommendes / Wort“ (zit. nach S. 260) Ausdruck, wird jedoch in seiner Erwartung eines klärenden Wortes enttäuscht.
Die letzten beiden Stationen in der Biographie der Todesfuge verortet Sparr in „Ostberlin 1986“ sowie „Bonn 1988“. In der DDR war Celan seit 1962 nicht ganz unbekannt, da Peter Huchel im letzten von ihm verantworteten Heft der Zeitschrift „Sinn und Form“ Gedichte des Dichterkollegen veröffentlichte. Die Todesfuge allerdings wurde erst 1968 und 1969 in Anthologien publiziert. Von herausragender Bedeutung wird das Gedicht dann in den Phasen des politischen Umbruchs im Ostblock, da es „ebenso auf die politische Gegenwart wie auf die Vergangenheit bezogen“ (S. 268) wird. Eine Art Editorial zum ersten Heft der „radix-blätter“, einer von einem Theologiestudenten herausgegebenen „Untergrundzeitung“ (S. 265), stellt einen hochgradigen intertextuellen Bezug zur Todesfuge her, um einen Dialog in Gang zu setzen und „eine neue Sprache zu finden“ (S. 269). Geradezu enthusiasmiert lässt Sparr das Kapitel über „Ostberlin 1986“ in die Frage münden: „Wann ist je freier. unvoreingenommener, historisch weit, doch zugleich auf sich bezogen, in der allerengsten Enge über Celans Gedichte diskutiert worden als im Sommer 1986 unter den schattigen Bäumen von Berlin-Weißensee?“ (ebda)
„Bonn 1988“: Im deutschen Bundestag wird der Kristallnacht vom November 1938 gedacht, mit der Lesung der Todesfuge durch die jüdische Schauspielerin Ida Ehre, die den Holocaust überlebt hat, und mit einer Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, die – Klartext über die Mitschuld weitester Bevölkerungskreise an den Naziverbrechen sprechend – als Provokation empfunden wurde und zum Rücktritt des Politikers führte. Zurecht vermerkt Sparr, dass das Gedicht und die Rede einander nicht widersprechen, dass diese vielmehr als Bestätigung der Auffassung gelten kann, dass der „Tod [...] ein Meister aus Deutschland“ sei (S. 275 f.).
Im abschließenden Kapitel „Das Jahrhundert Paul Celans“ attestiert Sparr dem Dichter „ein waches und ausgeprägtes Bewusstsein des Jahrhunderts, in dem er lebte, und wohl auch der Bedeutung, die er für dieses Jahrhundert hatte“ (S. 279). Er litt unter dem längst nicht überwundenen Antisemitismus als allgegenwärtige existentielle Bedrohung, er litt darunter, dass das ihm wichtigste, als „Grabschrift“ verstandene Gedicht seines Erachtens nicht angemessen rezipiert wurde. Es ist verwunderlich, dass es in vielen anderen Sprachräumen produktive literarische Auseinandersetzungen fand, im deutschen Sprachraum aber kaum (eine der Ausnahmen: Marie Luise Kaschnitz). Produktiv reagierten aber sehr wohl bildende Künstler wie Anselm Kiefer oder Komponisten wie Peter Ruzicka.
Sparr schließt seine durch genaue Recherchen bestechende „Biographie“ der Todesfuge mit einem Zitat aus Gerhard Baumanns Celan-Buch: „Entwürfe kommender Erinnerungen, – so verstand er sein Gedicht“ (zit. nach S. 286). Dieses Verständnis weist ins Offene als Aufforderung, sich der Todesfuge immer wieder erneut zu stellen. Die vorliegende Monographie, gut lesbar, verschönt durch aussagekräftiges Bildmaterial und aufgewertet durch Personen-, Orts- und Gedichtregister, regt dazu an.
Kurt Bartsch (17.08.2020)