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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 11


EUROPA

Visionen Depressionen Halluzinationen


Der Begriff EUROPA, mit dem so hemmungslos gehurt wird, geht uns doch nahe, denn auch unser Sosein und Herkommen sind da angesprochen, wir sind schließlich von hier, doch hauptamtlich sind leider Volkswirte, Politiker und andere Technokraten mit der sogenannten Eurokrise und EUROPA beauftragt. Das ist mehr als bedauerlich, denn diese Krise ist nur am Rande eine Krise des Geldes oder der Wirtschaft, sie ist viel mehr eine Krise des alten Europa und der europäischen KULTUR, die einst bis zu den Fidschi-Inseln reichte, das ist Geschichte, jetzt gibt es nur noch Märkte.
Andererseits gibt es viel Krisengeschwätz. Auch dem Weltall geht es nicht gut.

Volkswirtschaft, einst Nationalökonomie genannt, kann ihrem Wesen nach keine strenge Wissenschaft sein. Sie ist ein Wissensgebiet, in dem mathematisierte Theorien über Märkte, Geldmengen, wirtschaftliche Handelsstrategien, und vor allem die zugehörige, leider immerwährende menschliche Schwäche, gebastelt werden. Mit Hilfe diese Theorien will man die Zukunft vorhersagen, und sie sind zum Gutteil einander widersprüchlich, werden von ihren Anhängern dennoch für unumstößlich wahr gehalten und mit Vehemenz verteidigt. Der mittelalterlich-opaartige Begriff der Wirtschaftweisen, die Hohepriestern gleich gelegentlich vors Volk hintreten, um von höherer Erkenntnis zu künden, hilft der Wahrheit nicht auf die Sprünge. Die logische Widersprüchlichkeit tut besonders dem mathematischen Anspruch nicht gut, man könnte sagen, sie desavouiert ihn. Mit dem Mathematisieren soll man behutsam umgehen. John Maynard Keynes hat das gewußt, weil er selber auch Mathematiker war, und deshalb schätzen wir ihn (auch weil er 1919 die Versailler Vertragsbedingungen mit den abartigen Reparationen, die Deutschland aufgebrummt wurden, abgelehnt hat, leider erfolglos). Einen wie ihn vermissen wir.

Die Voraussagen der Volkswirtschaft über wirtschaftliche Verläufe sind um vieles ungewisser als der Wetterbericht, and in the long run we are all dead. Das mag in der Natur der Sache liegen, die so essentiell vom menschlichen Faktor geprägt ist (dafür haben wir sofort Verständnis), nimmt aber der Volkswirtschaft ihre Glaubwürdigkeit. Man hört Botschaften, die sich sehr schön und unergiebig an Hotelbars der besseren Kategorie bis zum Hang-over zerschwatzen lassen.
Trotzdem: als Hilfswissenschaft mag Nationalökonomie ihren Wert haben, mehr aber nicht. Speziell in der Eurokrise offenbart sie jetzt eine erschreckende Hilflosigkeit, und ja, es ist wahr: etwas wie den Euro-Schlamassel hat es bisher noch nicht gegeben, das ist neu und spannend, jedwede Spekulation, so wild sie auch sei, kann daher ein gewisses Recht auf Gültigkeit einfach behaupten, die Neuartigkeit des Krisengeschehens entschuldigt, scheinbar, jeden Irrtum.

Die Krise des neuen Geldes hat aber die seit langem schwelende, dem System EUROPA naturgemäß innewohnende Krise erst ans Licht gebracht. Notwendig ist zu fragen, was aus diesem EUROPA tatsächlich geworden ist, seit jene törichte kretische Jungfrau sich von einem Stier verführen ließ (sollte das allen Ernstes unser Gründungsmythos sein?), was es einmal war, was es noch sein oder werden kann, und wie es vielleicht neu gedacht werden könnte, und zwar unter Verzicht auf Visionen, Utopien, Ideologien und andere Halluzinationen.

Die Fragen nach diesem EUROPA, unter Einschluß seiner geographischen Bestimmung, beginnen bei dem Einzelnen, der im System statistisch untergeht, sich dennoch als Europäer fühlen möchte, wollte oder könnte, und unter welchen Bedingungen ihm dies überhaupt möglich wäre. Ist EUROPA mehr als die Summe vieler kleiner Einzelwelten? Die Welt des Einzelnen beginnt in ihm selbst, in seiner Familie, an den Orten seines empirischen Daseins, seines Vorgartens, seines Küchenbalkons, im überschaubaren Wohlfühlraum des Privaten. Wir denken doch immer noch am liebsten in Gefilden, die wir in einer Tagesreise durchmessen können, der Affe in uns lebt.
Schon das Land oder die Provinz überfordern uns, und die NATION ist uns in Wahrheit fremd. Die NATION ist ein theoretischer Überbau, den man gerne beschwörend anruft wie Mutter Natur oder Vater Staat, aber der Begriff erzeugt ein merkwürdiges Gefühl von Leere, wir können ihn nur symbolhaft fassen, in Regierungskathedralen, Hymnengedröhn, Panzeraufmärschen, begehbaren Denkmälern: Und da das Ganze nur ein Symbol, kann es nicht schaden, wenn es innen hohl. (Wilhelm Busch) Im 19. Jahrhundert sind ganze Nomenklaturen dieser symbolhaften Hohlheit des Nationalen entstanden, und je ideeller die NATION wurde, desto hohler, desto hitziger konnte man über sie streiten. Die Seinsleere des Nationenbegriffs hat Kriege ausbrechen lassen, seit 1945 hat EUROPA uns vor ihnen bewahrt, immerhin, bis jetzt.

EUROPA hat aber den Begriff der NATION selbst NICHT beseitigt, es hat ihn nur auf unterschiedliche Weise gezähmt, domestiziert, entschärft, beruhigt und dadurch est recht wieder stark gemacht. Sogar in Deutschland, wo er zum schlimmsten Mißbrauch führte und dann lange ein Schattendasein führte, ist er rehabilitiert und wieder gesellschaftsfähig geworden mit allen äußerlichen Entartungsformen eines grölenden Fanatismus. Schon muß man sich wieder fragen lassen, ob man Patriot sei.

EUROPA hat also sein eigentliches Problem, das im Nationalismus des 19. Jahrhunderts erst wirklich virulent wurde, nicht gelöst, und es sieht nicht so aus, als ob dieses Problem auf dem Verhandlungsweg bis auf weiteres lösbar wäre. Die höhere, übernationale Einheit EUROPA wäre vielleicht auf der heimatgebundenen Bodenständigkeit seiner Bewohner denkbar, nicht aber im Kontext von Staaten, die sich als Nationen in jenem emphatischen Sinne des 19. Jahrhunderts begreifen. Keiner der beteiligten Staaten wird seine Souveränität als heiligstes Gut der NATION auf dem Altar EUROPAS opfern oder auch nur ankratzen lassen. Davon wird jetzt sehr oft, aber höchst zögerlich und formelhaft gesprochen (MEHR EUROPA lautet der knappe Gebetstext), was aber das heißen soll, bleibt im Dunkeln, und da ist es vielleicht am besten aufgehoben. Never change a running system.
EUROPA, schon als Kontinent eine Fragwürdigkeit, hat seit dem Ende der Antike derart viele territoriale und dynastische Veränderungen durchgemacht, daß zum Ende des 19. Jahrhunderts der Nationalstaat als Fortschritt galt.
War er das wirklich?
Von zäher Beständigkeit blieb lange vor allem die Internationale des Adels von Habsburg bis Hohenzollern, und im Deutschen Reich nach 1871 westen ja all die kleineren und größeren Residenzen, Herzogtümer, Grafschaften, Fürstentümer, Königtümer einschließlich Preußen fröhlich weiter, wenn auch nicht mehr in souveräner Form, aber sie beflügelten immer noch das Bewußtsein ihrer Einwohner, an ihnen orientierten sich Identitäten, soweit sie über private Mikrokosmen hinauswachsen sollten. Dieser Zustand half wahrscheinlich dem gemeinen Kleinräumler, die große Fata Morgana der NATION überhaupt zu ertragen und schließlich zu verinnerlichen.
War dadurch die Lage wirklich einfacher geworden? War die deutsche Zersplitterung des 18. Jahrhunderts dem Charakter des Landes nicht doch viel angemessener als ein deutsches Kaiserreich? Ist etwa der jetzige Brüsseler Eurobürokratismus weniger kompliziert und verworren als die ehemalige Kleinstaaterei?

Das Brüsseler EUROPA gaukelt eine Gleichheit seiner Mitglieder vor, die es de facto nie gab, nicht gibt, weder geben kann, noch geben sollte. Sie ist eine grausame, ja inhumane Überforderung jener, die strukturell und traditionell schwächer sind. Manche Verhältnisse sind einfach nicht zu ändern. Durch gleiches Geld für alle diese fiktive Gleichheit nun erzwingen zu wollen, war der bislang dümmste Gedanke im europäischen Verständigungsvorgang seit 1945, man könnte ihn auch Hybris nennen angesichts der realen Verhältnisse, stimuliert zuletzt, so scheint es, durch maßlose Verblendung nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt.

Was hätte Bismarck wohl dazu gesagt? Konrad Adenauer, der einst im Preußischen Landtag saß und vom Bismarckschen Spiritus vielleicht noch angeweht war, legte zusammen mit Charles de Gaulle die deutsch-französische Freundschaft als Grundstein für ein vereintes EUROPA an, glückliche Tage (auch wenn sein Sessel 1962 in der Kathedrale von Reims niedriger als der De Gaulles war, der Vorgang war trotzdem historisch), und das war weit mehr, als alle übrigen Exponenten des politischen Getriebes bis heute erreicht haben, aber nach 1945 war dieses neue, bis dahin undenkbare, nun als Völkerfreundschaft deklarierte Übereinkommen, trotz allem Pathos Zwang des Faktischen, eine absolute Notwendigkeit, ein Gebot der praktischen und politischen Vernunft in ihrer nüchternsten Form, um weitere Kriege in EUROPA möglichst für immer, also wenigstens für die nächsten hundert Jahre, zu verhindern.

Welche absoluten Notwendigkeiten gab es für die Einführung einer gemeinsamen Währung?
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Man versteht rein menschlich den utopischen Enthusiasmus der Generation Kohl, die zur Stunde Null nach dem Desaster des letzen Krieges auf den Trümmern des entarteten Nationalismus saß und für ihre späte Geburt dankbar war: diese Träumereien vom großen europäischen Händchenhalten, dem vielen Gemeinsamen, und vergaß das Trennende, doch die Tage der schönen Strickjacken sind nun vorbei, und wir verstehen auch, was an jenen nagt, die das Leben bis zur späteren Jugend im Ostblock-Knast absitzen mußten. Für sie war EUROPA ein bißchen Fremdelend zur Sommerszeit an der Beresina, am Schwarzen Meer, am Wenzelsplatz, und kein Ersatz für die InterRail-Trips der hedonistisch agitierten Partyjugend des Kapitals.

Aber wer kannte denn EUROPA wirklich, wer kennt es heute? Gereist wird weiter wie verrückt und mehr denn je, denn immer noch gilt: überall ist besser als hier, aber die Wirklichkeit der fremden Länder wird immer fremder. Der Reisende möchte sein Wunschdenken sich nicht versauern lassen, wie die Welt wirklich ist, das weiß er von alleine und aus der Bildzeitung, der Tourist will seine virtuelle Glückswelt, und die touristischen Agenturen bedienen solche Wünsche all inclusive. Wer möchte schon durch Suburbs und Banlieus pilgern und von sozialer Realität belästigt werden, wenn Urlaub ist?
Wie auch immer: das allererste Trennende war und ist immer die Sprache. Da reicht es oft nicht mal zur Bierbestellung, und wer hat schon allezeit 27 mal n minus eins Simultandolmetscher um sich herum?

Am wenigsten kennen die amtierenden Politiker das reale EUROPA, wie sollten sie auch? Und sie wollen ja gar nicht, denn Realität stört. Man schreitet Militärparaden ab, sitzt sich bei Blitzlichtgeflacker in Rokokosälen halbschräg gegenüber, Schaumwein perlt, im Hintergrund maulen Dolmetscher, sorgenstarrer Miene tritt man an Rednerpulte und wiederkäut Triviales, man brettert in Großraumlimousinen hinter verdunkelten Scheiben über abgeriegelte Alleen zwischen Petersburg und Madrid, gelegentlich ein Bad in der Menge mit Bodyguards als Bademeistern, abends Galadiner ohne Blickkontakte, gegen Mitternacht vielleicht was fürs Herz, die Zeit der Zungenküsse im ZK ist vorbei.

Das schlimmste an den Volkswirten, denn das sollten Politiker im eigentlichen Sinne des Wortes doch sein: Wirte des Volkes (leider sind ihre Kneipen stark renovierungsbedürftig, die Bedienung ist miserabel), das schlimmste ist der profunde Mangel an Kreativität, an interessanten Ideen, originellen Vorschlägen, ach, man wäre für einen ganz normalen Gedanken schon dankbar. Stattdessen kaut man sich Visionen von den Nägeln. Dieses pausbäckig-akademische Grinsen auf den Präsentiertellern der Medien, diese implantierten Sorgenwülste auf der gegelten Halbglatze, diese chronisch-persistierende Floskulose der öffentlichen Rede, diese farblich ungünstigen Krawatten.

Nun wird viel davon gesprochen, die Einführung des Euro hätte erst stattfinden dürfen, wenn EUROPA eine politische Einheit geworden wäre. Das ist so wahr wie Schuld und Sühne, aber dann wäre der Euro niemals eingeführt worden, denn eine solche Einheit (Vereinigte Staaten von Europa) wird es niemals geben. Warum konnte der Euro nicht das bleiben, was er vor seiner Einführung als reales Geld schon einmal war, fiktive Verrechnungseinheit für die einzelnen nationalen Währungen? Man hätte bei der extrem unterschiedlichen Wirtschaftsleistung der beteiligten Länder die Geldpolitik flexibler gestalten können. Etwas wie dynamische Konvertierbarkeit müßte möglich sein, wenn man nur will. Nun ist den schwächeren Ländern jede Möglichkeit genommen, durch Eingriffe in die heimische Weichwährung Probleme der Haushaltslöcher zu verschleiern, Zinsdebakel zu mildern, Schuldendienste aufzuschieben, und die Bilanzen zu verschönern, wie eh und je mit Abwertung und Inflation sich durchzufretten. Immer mal wieder kamen auch bessere Zeiten. Nun ist man Gefangener des Euro und kommt nicht los davon. Die Starken werden stärker, die Schwachen schwächer, die Märkte blasen zum Halali, und niemand traut sich, dem ein Ende zu setzen.

Es bleibt also alles beim Alten. Herzlichen Glückwunsch, macht doch was ihr wollt: Europa, dieser Nasenpopel aus eine Konfirmandennase, wir wollen nach Alaska gehen (Gottfried Benn).


Max Naso





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