AUSGABE 11
NEUROMYTHOLOGIE
Gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung
Soeben hat der Präsident der USA verkündet, es sei dringend an der Zeit, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns grundlegend zu erforschen, einerseits, um Krankheiten wie den Morbus Alzheimer trockenzulegen, andererseits, um die Wirtschaftskraft der Vereinigten Staaten zu steigern. Für diese großen Ziele ruft er nun die Initiative Brain ins Leben (Brain Research Through Advancing Innovative Neurotechnologies) und stellt sie auf die gleiche Wichtigkeitsstufe wie die Projekte der NASA, den Kampf gegen den Krebs und die sogenannte Entschlüsselung des menschlichen Genoms.
So sehr wir Barack Obama schätzen, hier ist er falschen Propheten aufgesessen, wir vermuten, aus dem Dunstkreis der Psychopharma-Industrie, und vor allem hat er Felix Haslers Buch NEUROMYTHOLOGIE. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung (erschienen im transcript Verlag Bielefeld 2012, 2. unveränderte Auflage 2013) nicht gelesen.
Jeder, der heute auf dem Feld der Neurobiologie mitreden, ja gar investieren möchte, sollte dieses Buch kennen. Der Autor ist promovierter Pharmakologe und weiß, wovon er spricht. Zehn Jahre war er am berühmten Burghölzli, der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der Arbeitsgruppe Neuropsychopharmacology und Brain Imaging tätig, jetzt an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt Universität.
Felix Hasler schreibt eine flotte Feder und besitzt die seltene Fähigkeit, komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge allgemein verständlich darzustellen, ohne sie in verfälschender Weise zu vereinfachen. Seine Kritik richtet sich gegen Neurobiologie als grassierendes Modephänomen. Ohne die Vorsilbe Neuro- geht heute in der Forschung gar nichts mehr. Entsprechend vollmundig tönen die Manifeste und Voraussagen der Neuropropheten. Die endgültige Erklärung der letzten Dinge verheißen sie, vielleicht nicht morgen aber spätestens in 10 bis 20 Jahren, denn schon heute wissen sie: das Zentralorgan Gehirn determiniert den Menschen und sein Verhalten. Alles, was wir bisher in tumber Ahnungslosigkeit Seele, Geist, Bewußtsein, Selbst, Ich, Person, freien Willen nannten, ist nichts weiter als eine Illusion des Gehirns, Fatamorgana.
Woher diese Illusion kommt, was sie bedeutet, wieso sie möglich ist, und warum es sie gibt, spielt keine Rolle mehr, wenn die Funktionsweise des Gehirns erst einmal verstanden ist. Und selbstverständlich gilt: wenn das Gehirn den Menschen determiniert, determiniert es auch die menschliche Welt, zumindest in der Denkweite des biologistischen Reduktionismus.
Ob wir uns vor dieser Omnipotenz des Gehirns jetzt schon ernstlich gruseln müssen, ist zum Glück noch nicht ausgemacht, denn vieles spricht dafür, daß der Neurowahn ähnlich enden könnte wie das menschliche Genomprojekt vor nun schon fast 12 Jahren. Die vollständige Sequenzierung von über drei Milliarden Basenpaaren war ohne Zweifel eine beachtliche Fleißarbeit, auch wenn sie weitgehend von Maschinen bewältigt wurde, der Ertrag ist gleichwohl dürftig. Bis jetzt wissen wir höchstens ansatzweise, wie der genetische Code tatsächlich funktioniert, welche Bedeutung die Gene haben, wie sie untereinander agieren, wie sie zelluläre Aktivitäten regulieren etc., von therapeutischen Konsequenzen ganz zu schweigen. Die einzige wirklich spürbare Konsequenz war ein gewaltiger Börsencrash durch den Untergang der Biotechnologie, bevor sie richtig aufgegangen war.
Je lauthalsiger die Prognosen, desto dürftiger das Ergebnis, dieser Verlauf könnte auch dem menschlichen Gehirnprojekt beschieden sein. Stolz präsentieren Neuroforscher bunt gefleckte Schnittbilder durch menschliche Gehirne, die mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) gewonnen wurden und angeblich mit hoher Auflösung Hirnregionen darstellen, die jede Menge Emotionen und andere zerebrale Vorgänge repräsentieren sollen. Wie Hasler überzeugend ausführt, bleibt die Aussagekraft solcher Bilder jedoch höchst bescheiden, vor allem weil die Ergebnisse des sogenannten Neuroimagings nicht überzeugend reproduzierbar sind. Es fehlt die Möglichkeit der Standardisierung bzw. Objektivierung durch empirische Selbstkontrolle und eine Normierung der statistischen Bearbeitung. Falsch positive Ergebnisse werden am laufenden Meter produziert und müssen statistisch korrigiert werden. Kreativer Willkür öffnet sich hier ein weites Feld.
Möglicherweise lassen sich diese Schwächen im Lauf der Zeit noch verbessern, doch bleiben gewichtige experimentalpsychologische Einwände gegen das fMRT bestehen. So können etwa den Probanden nur Fragen gestellt werden, die sie per Knopfdruck mit Ja oder Nein beantworten müssen, weil der Sprechakt seinerseits eine das Ergebnis der Messung stark verzerrende zerebrale Aktivität hervorrufen würde. Die experimentellen Situationen sind hochgradig artefiziell und können kaum auf reales Leben extrapoliert werden.
Und im übrigen, so Hasler, da falsche fMRT-Aktivierung und selbst abenteuerliche Dateninterpretation gewöhnlich keinerlei praktische Konsequenzen haben, bleiben Neuroimaging-Untersuchungen ohnehin folgenlos.
Mit besonderer Akribie widmet Hasler sich den ökonomischen Aspekten der Neuromythologie, sprich der Dominanz der Pharmaindustrie und ihrer Interessen, der Neuro-Manipulation und dem Verkaufen von Krankheit. Man erfindet neue Leiden, manipuliert werden ohne jede Hemmung klinische Arzneimittelstudien, unliebsame Ergebnisse werden verschwiegen, hirnchemische Vorgänge versimpelt oder bagatellisiert. Die widersprüchlichen Behandlungsergebnisse mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) z.B. wird heute gerne mit dem Phänomen der Neuroplastizität erklärt, d.h. einer Volumenzunahme des Gehirns. Neuroplastische Veränderungen finden sich jedoch bei einer Fülle menschlicher Aktivitäten, vom Kinobesuch bis zur Meditation.
Hauptgrund für die Willkür und Beliebigkeit der Interpretation von Wirkmechanismen psychoaktiver Substanzen ist die unvorstellbare, bisher auch nicht annähernd verstandene und meßtechnisch nicht erfaßbare Komplexität des Gehirns. Zitate (S. 172f): Trotz Dekaden der Forschung ist die Neurobiologie der Depression weitgehend unbekannt, und die Behandlungen sind heute nicht effektiver als vor 50 bis 70 Jahren, ist das ernüchternde Fazit des Psychiaters Paul Holtzheimer und der Neurologin Helen Mayberg .... Vieles deutet darauf hin, daß die gegenwärtige Epidemie psychischer Störungen zum Teil sogar durch die neue wissenschaftliche Ausrichtung mitverursacht wurde .... Die dauernde Ausweitung diagnostischer Kriterien hat zudem zu einer Pathologisierung von Befindlichkeitszuständen geführt, die vor einigen Jahren noch als normal angesehen wurden .... Über alle Maßen simplifizierte, nie bewiesene und bisweilen grundlegend falsche wissenschaftliche Konzepte zur Biologie der Psyche haben den Boden für die gesellschaftliche Akzeptanz bereitet, psychiatrische Störungen als entgleiste Chemie, insbesondere als Neurotransmitter-Ungleichgewichte zu begreifen.
Felix Haslers verdienstvolles Bemühen ist keinesfalls, neurobiologische Forschung in toto zu verurteilen oder zu verdammen. Er möchte nicht mehr und nicht weniger, als sie auf den Boden der Realität zurückführen. Wie schwer das ist, zeigt sein Buch, denn zu der notwendigen Selbsteinsicht und Bescheidenheit sind nur die wenigsten der beteiligten Neuro-Akteure fähig. Vor allem sind sie nicht bereit, ihre massiven Interessenkonflikte im Sinne einer wissenschaftlichen Objektivität zu lösen.
Möglicherweise steuert die naturwissenschaftliche Weltsicht, die seit 200 Jahren die Deutungshoheit gegenüber der Geisteswissenschaft an sich gerissen hat, in Gestalt der Neurobiologie auf eine natürliche Grenze zu, die sie nicht mehr überschreiten kann: das Gehirn.
Das Gehirn, wir sollten es nicht vergessen, ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Organ, Biomaterie, die aufgrund ihrer besonderen Beschaffenheit, insbesondere ihrer genetischen Codierung neben zahllosen regulativen Funktionen z.B. sinnliche Wahrnehmung ermöglicht. Wie diese Wahrnehmung die Form eines mentalen Zustandes annehmen kann, was dieser Zustand für das wahrnehmende Ich bedeutet, wie es ihn bewußt macht, welches Erleben er auslöst, solche Fragen sind biologisch nicht mehr erklärbar. Biologische Erklärungen enden, bildlich gesprochen, an der Membran. Dort tritt der Geist auf den Plan.
Benito Salvarsani
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