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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 7


18. SEPTEMBER: WÄHLEN ODER NICHTWÄHLEN

Jahr um Jahr, lieber Surfer, wußten wir nicht, was wir wählen sollten, immer wieder haben wir uns für das kleinere Übel entschieden, und dann war es das faule Ei.

Ihnen ging es genauso? Dann haben Sie sich ja noch rechtzeitig vor der Stimmabgabe zu uns durchgebrowsert. Uns reicht es nämlich, wir haben die Schnauze voll, diesmal wählen wir nicht, und das empfehlen wir auch Ihnen. Schauen Sie nicht mehr auf das ondulierte Grinsen der Wahlplakate. Hören Sie auf Lit-eX, und behalten Sie Ihre Stimme für sich! Kümmern Sie sich nicht um das Gemeinwohl, denken Sie ans eigene Wohl. Wählen Sie sich selbst!

Das System der parlamentarischen Demokratie, das uns eine Jugend mit leichtem Gepäck beschert hat, wurde von der Diktatur der Bürokratie mehr und mehr stranguliert. Unter den Vorzeichen von Demokratie hat sich ein Staat im Staate breitgemacht, eine Übermacht der Ämter, das parasitäre Prinzip Verwaltung. Die Kopulation von Demokratie und Bürokratie gebar ein hybrides Monster, nennen wir es Demokratismus, wahlweise totalitäre Demokratie.

Das System läßt die Zügel locker, es gibt sich jovial und bürgernah, tarnt sich als permissive Duz- und Spaßdemokratie mit Bladenights, Open-air-Spektakeln, Sie bekommen jederzeit eine Lizenz zum Grillen. Die Medien wurden Apostel des Systems, sie schufen ein neues Grundrecht auf allgemeine und öffentliche Exhibition. So wird, was sonst soziallästig wäre, als Dauerunterhaltung entschärft. Jede Abartigkeit tobt sich auf ihrer Website aus. Das sichert sozialen Frieden und erleichtert den bürokratischen Organen die Arbeit. Ruhe ist noch immer die erste Bürgerpflicht, und wie sonst wäre soviel Ruhe im Lande denkbar bei soviel Unruhe in den Medien?

Gegen das Heraufkommen der bürokratischen Allmacht war das politische Personal machtlos, es wurde ihr Teil. Entweder es paßt sich an, oder es verliert die Wahlen. Kaum zu sagen, was degoutanter wäre, die Gebrauchtwagenhändlerrhetorik des Amtsinhabers, der Hebammenblick der zirpenden Kandidatin oder das Gerödel des Trosses. Ob Sie diese Leute wählen oder nicht, ist folgenlos. Das System wird überleben, es repliziert sich aus sich selbst. Seine Funktionsträger und Repräsentanten sind jederzeit auf allen Ebenen und Rängen beliebig ersetzbar. In ihrer Bürgerferne erscheinen sie wie Mutanten einer Parallelwelt. Diesen Leuten fehlt fast alles, was man von denen erwartet, die man wählen könnte: Herz, Phantasie, Geist, Mut, Charme, Humor . . .

Die Krankheit des Demokratismus hat das Alte Europa entwurzelt und paralysiert. Diese Krankheit ist Ausdruck eines Absterbens, aber sie ist auch Ausdruck einer sich selbst erhaltenden Wucherung, einer Evolution ins Amorphe, das in den supranationalen Brüsseler Behörden sich ideologisch transzendiert hat. Das Alte Europa, das seit drei Jahrtausenden formbildend war, annulliert sich nun. Die egalisierende Formschwäche des Demokratismus, die als Toleranz gehandelt wird, dient der politischen Klasse als metaphysischer Schnürboden zur Inszenierung einer Fata Morgana: politische Einheit Europas. Der Globaltourist in Hawaiihemd und kurzen Hosen, der jetzt jeder Pietá hinterherkriecht, hat die Lektion schon lange begriffen. Massentourismus - Vorhut der totalitären Demokratie.

Dazu der schamlose Alarmismus all dieser Futurologen, Ökologen, Klimatologen, dieses rüpelhafte Geschrei von Demographen und Epidemiologen mit ihren pandemischen Katastrophenträumen, ihren Visionen weltweiter Desaster, ihren Wirklichkeitsverzerrungen, die sich lustvoll ins Schaumbad einer kollektiven Untergangsstimmung ergießen. Einerseits gehört das zum klassischen Wehleidigkeitskatalog des deutschen Wesens, andererseits . . . da hört man doch auch die Stimme einer lange unerfüllten Sehnsucht nach einer starken, allmächtigen Obrigkeit, die solche Plagen von uns nehmen möge, die alles richtet und reguliert, dieses tiefe Verlangen nach dem alten Rübezahl Vater Staat dessen graue Faust unermüdlich auf die Stammtische hämmert, der Mutter Natur zeigt, wo's längsgeht . . .

Das Endziel des Demokratismus ist die gewaltfreie Abschaffung des Einzelnen im Namen der Freiheit, die Beseitigung des gesellschaftsfernen Ichs auf der Umlaufbahn seiner Moira. Ein neuer Mensch mendelt sich heran, an dessen Züchtung nicht die Gentechnik wirkt, sondern das System mit den Mittel des totalen Konsums. Wer jetzt dieses Ich noch behaupten will im Rummel des Angebots, der muß sich zurückziehen in den Darkroom der Privatheit, der muß sich abgrenzen. Differenz ist naturgegeben, aber Abgrenzung ist subversiv, unsolidarisch mit der Ichlosigkeit der Gemeinschaft. Im Öffentlichen regelt, solange es gutgeht, alles der Markt, wenn es schlechtgeht, greifen die Behörden durch.

Möglicherweise war es ein fundamentaler Irrtum, den Gedanken der athenischen Demokratie auf die Massengesellschaft zu überimpfen. Besser wäre es vielleicht gewesen, einige Prinzipien der dorischen Zeit mit zu übernehmen. Müßiger Gedanke in einer Welt, die sich ihre Traditionen, ihre Geschichtlichkeit selber amputiert hat. Der Sinn für das Tragische der Geschichte ist abhanden gekommen, für das Vergehen der Zeit und das Endliche, für die existentielle Lage des Ichs im Nie und Immer. Wo Tradition verleugnet wird, gibt es keine Zukunft mehr, nur noch sinnentleertes Kreischen nach Visionen und Utopie.

Die politische Klasse bläht sich in unbegründeter Wahrheitsanmaßung wie der Frosch in der Fabel, aber sie hat nichts anzubieten, was eine Wertegewißheit befestigen könnte. Wir hören buchhalterisches Gezerre um Einnahmen, Ausgaben, Kopfpauschalen und dergleichen, und wenn wir eine Weile dem Klang des Wortes Kopfpauschale nachlauschen, hören wir jene andere Stimme, die Stimme der totalen Verwaltung, die uns beherrschen will. Die Sprache des Öffentlichen ist eine Sprache ohne Gedanken, ohne Menschlichkeit, ohne Raison du cœur. Wir müssen jetzt mit den Menschen reden, lautet die salbungsvolle Botschaft an den Endverbraucher, den Bürger draußen: Prima leben und sparen, Vorfahrt für Arbeit, Geiz ist geil, wer Frieden will, muß standhaft sein, Steuern runter, Arbeit rauf, weiter so, ich bin doch nicht blöd. Wer so redet, will betrügen.

Die Studentenbewegung von 1968 hatte einiges aufgerührt, aber diese Kinder von Marx und Coca Cola hatten keine Ahnung, was sie eigentlich wollten, was sie überhaupt ernstlich hätten wollen können. Man hört noch den Ruf aus Paris damals: Die Phantasie an die Macht! Ja, die Studenten mit Aristoteles, mit Seneca, Petrarca, Giordano Bruno, Montaigne et al., das wäre es vielleicht gewesen. Rückbesinnung aufs Ursprüngliche, aufs Mythische. Demokratie dagegen ist ein historisch erzwungener, ehrenwert erkämpfter Zustand, dem wir Respekt zollen, etwas Synthetisiertes aus vielen Elementen des christlich-abendländischen Geistes, aber als ein solches Zusammengesetztes ist sie veränderbar. Die absoluten Werte, die sie virtuell noch vertritt und hochhält, sind auch in anderen Zusammenhängen möglich. Das Denken müßte sich ändern, nicht die Sache.

Und die Phantasie schließlich, will man sie wirklich an der Macht? Wie geschähe ihr, käme sie an die Macht? Sie würde als erste korrumpiert. Die Studenten hatten Phantasie, aber sie haben ihr nicht vertraut. Ihr anachronistischer Rekurs auf marxistische Ideen markierte das Ende dieses kindischen Aufruhrs und den Marsch in den Terrorismus.

Neuerdings unterstützt die Agentur für Arbeit, vulgo Arbeitsamt, Weiterbildungskurse zum Dichter, also zum Eintritt ins endgültige Abseits. Willigen Arbeitslosen wird eine selbständige Tätigkeit im Bereich Prostitution mit Existenzgründungszuschuß und Überbrückungsgeld angeboten. Die Bundesagentur für Arbeit ist zur Bezuschussung gesetzlich verpflichtet.

Beispiele für die blindwütige Orientierungslosigkeit des Demokratismus gäbe es reichlich, aber es gibt Dinge, Fragen des Menschlichen, die nicht behördlich geregelt werden können, Dinge, über die nicht abgestimmt werden darf, das a priori Gültige, z.B. Menschenrechte, z.B. Würde. Ein System, das Gesetze erläßt, um den Regierten den Verkauf des eigenen Fleisches zu erleichtern, in der erklärten Absicht, dieses Sich-öffentlich-Hinstellen-und-Feilhalten zu einer selbstbestimmten authentischen Tätigkeit umzuwerten, als ob man den Status der Erniedrigung per Gesetz jemals adeln könnte, als ob Liebe nun endlich doch käuflich wäre, ein solches System ist am Ende.

Die innere, sich verselbständigende Degeneration des Systems, die sich mehr und mehr jeder Kontrollierbarkeit entzieht, müßte nun aufgehalten und beendet werden. Persönlichkeiten, die zu Eingriffen imstande wären, sind aber nicht in Sicht. Es gibt im einfachen Sinne des Wortes nichts zu wählen. Bleiben Sie darum am 18. September ganz ruhig. Halten Sie sich fern von den Sirenen der Mitte, des Gängigen und Gewohnten, achten Sie nicht auf die Meinungskakophonie der Mediendebatten. Schalten Sie den Fernseher ab. Gehen Sie ins Gebirge, sammeln Sie Pilze. Lesen Sie Horaz, lesen Sie Stifter. Hören Sie Bach. Wandern Sie durch die Alleen, denken Sie nach, frönen Sie der Liebe. Machen Sie ein Faß auf.

Kees van de Verschredderen




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