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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 7


DIE ENTDECKUNG DER BELANGLOSIGKEIT


Zu Sten Nadolnys ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT


Vor zwanzig Jahren bei der ersten Lektüre Ungeduld, Mißbehagen, vorzeitiger Abbruch. Jetzt mehr Geduld, kein Abbruch, dafür wachsendes Mißbehagen. Was stört mich an diesem ruhmreichen, vielfach preisgekrönten Buch, das mittlerweile auch in gymnasialen Hochleistungskursen für neuere deutsche Literatur schwer beliebt ist?

Sprachlich habe ich an dem Text nicht viel zu mäkeln. Manchmal sickern die Sätze allzu behäbig dahin, der Ton wird onkelhaft-belehrend, schräge Vergleiche fallen unangenehm auf, aber im ganzen gibt es keine gravierende Entgleisung, der Autor gibt sich Mühe, auch wenn er in der zweiten Hälfte, nachdem alles längst gesagt und durchgekaut ist, nur noch eine lahme Pflichtübung aufführt.

Nein, es ist die Grundidee, die von Anfang an das Buch entscheidend schwächt, wenn nicht entwertet. Die ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT gehört zu jener Gattung von Traktat, die ich Exemplifikationsroman nennen will, und der geht so: Da ist einer, der wäre gerne Autor, und der hat eine Idee, und nun sucht er für die Idee eine Person und einen Stoff, und dann wird die Idee der Person und dem Stoff aufgepfropft und/oder übergestülpt auf Deubel komm raus. Nicht selten wird der Wahrheitsgehalt der Idee präventiv durch historisch authentische Verbrämung abgestützt.

Im vorliegenden Fall verrät schon der Titel das ganze Programm. Natürlich ist der Titel genial, zumal er die Lektüre des Romans glatt ersetzt. Langsamkeit als kritische Haltung gegen den Zeitgeist, gegen das inhumane Tempo der technisch-industriellen Epoche, als Finden der eigenen Zeit gegen die aufgezwungene - das ist existentiell angetouchte Lebensweisheit vom Erlesensten, wer fühlte sich da wohl nicht angesprochen?

Konstitutionelle Langsamkeit im Erfassen der Welt, prägt den Seefahrer und Entdecker John Franklin (1786 - 1847), den Helden des Buches, und stempelt ihn zum Außenseiter ab. In der Welt der Seefahrt und des beginnenden Industriezeitalters kann Langsamkeit solcher Art naturgemäß nur als grober Nachteil gelten, ja als Behinderung und mindere Begabung.

Das Buch soll uns das Gegenteil beweisen, das wir längst begriffen haben, und um die Moral auch dem Tumbesten noch einzubläuen, wird sie uns auf jeder Seite mindestens ein- bis zweimal hingerieben: Erst durch Langsamkeit formt sich Genauigkeit des Erkennens und Beschreibens von Wirklichkeit, in der Langsamkeit des Erwägens reift die Sicherheit des Entschlusses, der zum erfolggekrönten Handeln führt. Ein Makel - so kündet der Autor - kann, recht betrachtet, auch ein Vorzug sein, darum soll man niemanden einer vermeintlichen Schwäche wegen voreilig unterschätzen und zum Außenseiter degradieren, denn: Worin wir schwach erscheinen, könnte unsere wahre Stärke liegen. Außenseitertum ist keine Schande, im Gegenteil: Der Außenseiter kann unser Bewußtsein wecken für die Defizite des Gängigen.

Das ist wunderbar, das ist rundum positiv, ja erbaulich und politisch voll korrekt. Leider spielt es keine Rolle. Ob die Ideen eines Autors moralisch hochwertig oder verwerflich sind, ist Nebensache, einzig und allein kommt es darauf an, wie uns die Angelegenheit in der Erzählung dargetan wird. Der Exemplifizierungsroman aber erzählt nicht, er täuscht Erzählen vor, und er stellt keine Fragen, weil die Antworten auf der Hand liegen. Der Exemplifizierungsroman macht sich selber überflüssig, indem er das Gemeinte unentwegt behauptet und benennt. Das Gemeinte dürfte jedoch als eigentlich Unbenennbares nur im Fortgang des Lesens spürbar werden - so vielleicht könnte man es sehen - als dessen mögliche Essenz, anders als erzählt dürfte es sich gar nicht sagen lassen. Wäre es anders sagbar, wozu bräuchte ich dann den Roman, warum sollte ich 350 Seiten lang rudern, wenn die Moral der Sache in zwei Minuten an Land ist? Der Roman wird hier als Ideentransportmittel schnöde mißbraucht, das Erzählen, oder - mit Verlaub - das narrative Prinzip verliert seinen Sinn, weil der Autor ihm anscheinend nicht vertraut.

Kaum läßt sich - nebenbei bemerkt - der Gedanke unterdrücken, daß all dieses räsonierende Geschwätz über Zeit und deren rasches Vergehen in Wahrheit furchtbar abgedroschen ist, und längst zu inflationärem Biertischgelaber heruntergequasselt wurde. Carpe diem, hora ruit, was lange währt, wird endlich gut, kommt Zeit kommt Rat, eins, zwei, drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit, chi va piano va sano, spät kommt ihr, doch ihr kommt . . . auf dergleichen Spruchweisheit läuft es doch hinaus.

Fragt sich nur: Wie konnte es kommen, daß so ein Buch dermaßen volksnah wurde? Die Antwort liegt auf der Hand. Dieses Buch liefert unterm Deckmantel Literatur leicht verständliche, griffige Moral und Lebenshilfe für jedermann. An jene wendet es sich, die schon immer nur das eine wissen wollten: was will uns der Autor damit sagen? Hier ist von Anfang an klar, was uns der Autor sagen und mit auf den Weg geben will. Auch das langvermißte Positive taucht hier endlich wieder auf. Das ursprünglich kritisch Gemeinte entblättert sich als ein Bejahendes, als bloße Konvention und mutiert zum Wort zum Sonntag. Genau darum ist dieses Buch aufs vortrefflichste geeignet für pädagogische Folterungen im Deutschunterricht an Höheren Schulen. Der Schein des Hochgeistigen ist gewahrt, Alltägliches wird lehrplangerecht als hehres Gedankengut verkauft, keinem tut es weh und bereitet prima auf den Ernst des Lebens vor.

Literatur, so lernen wir, wird im öffentlichen Raum vor allem dann gelobt, wenn sie anwendbar und nützlich ist, und dem Gemeinwohl dient. So gesehen gibt die groteske Verleihung des Nobelpreises an Elfriede Jelinek stark zu denken, wurde dort doch eine in jeder Hinsicht unbrauchbare, nutzlose Literatur prämiert, aber das wäre dann ein anderes Lied.

Pater Ralf de Frikassée





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