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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 8


FREIHEIT, GEIST, GEHIRN


Notizen zu einem Scheinproblem, oder haben Hirnforscher einen Dachschaden?


Ratlos reiben wir die Augen: Driftet Biologie zurück ins 19. Jahrhundert, in die Epoche jenes rüden Materialpositivismus, der nur platter Handgreiflichkeit Wirklichkeitswert zugestand? Wieder einmal leugnen Damen und Herren Neurowissenschaftler die Freiheit des Willens, des Geistes, des Ichs, des Bewußtseins, unter Berufung auf die Artefakte bildgebender Verfahren und die Launen konditionierter Käfigratten. Die lavaalte Maschinenmetapher vom Menschen wird aus den Beinhäusern falscher Ideen hervorgezerrt und runderneuert. Horrend! Geist, so die Zentralthese dieser Verwirrten, sei nur kausal determinierter Ausfluß einer autonomen Gehirnmaschine, sei gar mit der Tätigkeit des Neurosystems identisch. Freiheit sei daher Illusion.

Wir können es nicht glauben. Hatte nicht schon Leibniz in der Materialismusdebatte seiner Zeit mit solchem Humbug aufgeräumt? Wenn etwas ein Anderes bedingt, können die beiden nicht identisch sein, sie müssen unterschieden sein. Wären sie nicht unterschieden, könnte das eine das andere nicht bedingen. Wenn b aus a folgt, muß b ein Anderes sein als a, andernfalls würde a sich tautologisch höchstens selbst bedingen, und ein b wäre überflüssig, gar nicht denkbar. Luft, so Leibniz, bedingt unter anderem Leben, aber deshalb ist Leben nicht Luft.

Sie wollen es griffiger? Denken Sie an eine Wurstmaschine. Oben werfen sie das Fleisch hinein, unten kommt die Wurst heraus. Ist darum die Wurst mit der Maschine identisch? Das Bedingende ist das Eine, das Bedingte das Andere.
Als Caruso Vesti la giubba sang, was tat sich da bei ihm im Cerebrum? Verbrüderten sich Nukleotide, gaben ihren Enzymen Zucker, reichten die Zellen sich Endorphine, schoben Dopamin nach, massierten sich ACTH in die Synapsen?
Auch wenn im Cerebrum von Sängern des Horst-Wessel-Liedes sich Gleiches tat, das Horst-Wessel-Lied und die Arie des Bajazzo blieben notwendig different.

Was wissen wir wirklich über den Stoffwechsel des Gehirns, Efferenzen, Afferenzen, Reizleitungen, multirelationale Komplexizitäten der Verschaltung, rechte Hälfte, linke Hälfte, neuroendokrine Regulationen, Gyrus frontalis, Hypothalamus, Hippocampus, Rhinenzephalon, zerebellare Modulation, Mitsprache der Basalganglien, Sinn und Sinnlichkeit? Wie speichert das Gehirn Information? Stapelt es Moleküle in den Zellen der Formatio reticularis, Lipoproteine phosphoryliert? Welche Tertiärstruktur hat Erinnerung, wie und wo wird sie gelagert? Zytoplasmatisch, in den Labyrinthen des Golgi-Apparates, mitochondriennah oder lysosomal? Wieviel ATP benötigt ein durchschnittlicher Gedanke pro Zeiteinheit, wieviel eine Assoziation? Wir wissen viel, aber viel zuwenig, und selbst wenn wir den Metabolismus geistiger Tätigkeit samt begleitendem Gefühl und somatomotorischer Reaktionen bis ins letzte biochemische Detail beschreiben könnten (was wir eines Tages wahrscheinlich können werden), wäre Freiheit davon nicht berührt. Denken Sie an Leibniz.

Sagen wie es für den Endverbraucher einmal so: Wir begreifen das neuronale System als Organisator der körperlich-geistig-seelischen Existenz, als physisches Substrat des Seins, makroanatomisch, zellulär, elektronenoptisch, molekular. Der entwicklungsgeschichtlich ältere Teil des Systems steuert autonom vitale Funktionen, unter vielen anderen: Kreislauf, Atmung, Verdauung. Seien wir doch bitte der Evolution dankbar für diese Autonomie. Oberhalb dieser Ebenen, im Cortex des Gyrus frontalis finden wir dann zu uns selbst, ihm entsprang Pallas Athene. Dort bearbeiten wir das Ich und seine Defizite, das ist ein lebenslanger Prozeß. Das Ich emanzipiert sich von der Materie, dahinter können wir nicht zurück. Betrachten wir das Frontalhirn also als Werkzeug des Geistes, über das wir verfügen können. Der gesamte soziokulturelle Komplex, die geschichtliche Welt der Rasse Homo sapiens sapiens von den Anfängen bis zur Gegenwart ist das ebenso hocherhabene wie niederschmetternde Ergebnis dieser Geistestätigkeit. Der Mensch ist Geist. Sagte das nicht schon Hegel mit etwas anderen Worten?

Zwischen den niederen Ebenen der somatischen Autonomie und der höchsten Ebene der Selbstbestimmung gibt es Zwischenschichten, die noch unsere Verwandtschaft mit den Lurchen bezeugen, Medulla oblongata, Stammhirn, Zwischenhirn, und irgendwo gähnt der Limbus. Da versinkt manches, manches steigt auf von dort, da liegen tiefere Gründe unserer Paroxysmen und Melancholien, da webt das Irrationale. Vernunftentscheidungen werden durch Triebimpulse behindert. Triebe, immer wieder Triebe, wie Heckenschützen attackieren sie den Geist, alles Unter- und Halbbewußte brodelt dort, das Sein im Aggregatzustand von Magma, die obskure Welt der Träume, Wirklichkeitsrekombinationen, poetische Regurgitationen, dennoch . . . dennoch verfügen wir über kognitive Fähigkeiten, Irrtümer zu begreifen, zu analysieren, zu korrigieren, in Form zu bringen. Das Frontalhirn kämpft sich frei, es unterliegt oft, das ist sein Schicksal, und es rafft sich wieder auf, daraus entsteht alles, daraus formt sich das Ich und seine Nichtung. Wir kennen die Gründe unserer Leiden.

Eine spezifisch menschliche, spätevolutionäre Form des Lernens entwickelte sich neben der unbewußten. Wir müssen uns nicht abrichten oder konditionieren wie Labortiere. Das Ich organisiert sich selbst. Bei Bedarf legen wir Konditionierungen ab oder legen uns neue zu, verkümmerten Instinkten helfen wir technisch auf die Sprünge, das ist auch eine Leistung des freien Geistes. Was wir über das Unbewußte hinaus lernen, sollte ichkonform sein. Die archao-primitiven Versuchsanordnungen, mit denen uns jene Hamsterdompteure jetzt wieder über das menschliche Gehirn etwas vormachen wollen, sind nur noch lächerlich und anmaßend, ja dummdreist. Nach 150 Jahren experimenteller Biologie könnte man gelernt haben, die Ergebnisse von Tierversuchen mit maximaler Skepsis, wenn nicht Verachtung zu bewerten. Schon das experimentelle Design verändert den Gegenstand und die Fragestellung, und die Mehrzahl aller Experimente generiert vor allem Selbstreferenz und akademische Titel. Die Müllhalden sinnlosen Wissens wuchern in den Himmel.

Computertomographie kann aktivierte Hirnregionen sichtbar machen, das ist schön. Die Inhalte solcher Aktivität erfaßt sie nicht. Ihre virtuellen Bilder entfremden sich unkontrollierbar von zellulären und molekularen Wirklichkeiten, denn das scheinbar brillant Gelungene solcher Bilder, das Wirklichkeit vortäuscht, vernebelt den kritischen Blick. Das Virtuelle auf dem Bildschirm erscheint manchen perfekter als die Wirklichkeit, glatter und griffiger, denn es scheint frei vom Schmutz des Tatsächlichen, von der unangenehm sinnlichen Präsenz des Organischen. Das digitale Bild verselbständigt sich und erzeugt eine Morphologie der Virtualität als Surrogat. Wissenschaftler in diesem Stadium der Fachidiotie verlieren irreversibel den Blick aufs komplizierte Ganze des geweblich-physiologischen Zusammenhangs, und dann hören Sie kurzschlüssige Sätze wie: Der freie Wille ist nur oder nichts anderes als eine Illusion des Gehirns aufgrund synaptischer Vernetzungen, weil analoge Reize in analogen Regionen in Mensch- und Mäusehirn analoge Signale evozieren.

Nur, diese kleine dümmliche Partikel der Simplifikation verrät den Status einer Partialdemenz mit Absolutheitsanspruch. Dröhnten nicht aus der dialektisch-materialistischen Philosophenecke jahrzehntelang komplementäre Sätze mit analogem Gehalt: Der Mensch ist nur oder nichts anderes als ein Produkt seiner Umwelt und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man kann eben auf verschiedene Weise monoman gestört sein. Betrachten Sie Determinismus als Variante von Verblödung.

Ohne Naturwissenschaft ist die Welt nicht mehr zu fassen, allein mit ihr noch weniger. Ohne den Geist ist sie nichts wert. Der Geist weht, wo er will, emanzipiert sich von der Materie, erdichtet sich, wenn er will, metaphysische Räume und richtet sich in ihnen ein, bis die Membranen glühen, und die Moleküle rasen, manchmal wirken Alkaloide mit. Das Leben ist ein Traum. Ist das Leben ein Traum? Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Wir können lügen oder die Wahrheit sprechen. Wir sind frei, weil wir uns entscheiden können, frei zu sein.

Jene Neuropathosophen sollten ihre intellektuellen Stenosen weiten und ihren Begriff von Freiheit überprüfen. Ortlose Freiheit als abstrakte Größe ist sinnlos, ja überflüssig. Frei sind wir nur innerhalb eines Systems. Dieses System schaffen wir selber: Glanz und Elend der menschlichen Welt. Freiheit fordert imperativ Gestaltung, Form. Formgebende Gestaltung ist die genuine Leistung des freien Geistes, sei es die Gestaltung des sozialen Lebens, von Texten, Kompositionen, Kunst, seien es thermodynamische Hauptsätze, Quantenmechanik oder das Design einer experimentellen Anordnung. Die Notwendigkeit von Gestaltung für das menschliche Leben über das Instinkthafte hinaus ist im Organischen nicht angelegt. Schon in den Höhlen von Altamira gab man sich mit Vita minima nicht zufrieden. Was war der Anlaß? Zuviel Serotonin in der Pfeife geraucht? Der Adrenalinschub der letzten Mammutjagd noch nicht verklungen? Eine vitale Notwendigkeit, Bilder an Wände zu malen, gibt es nicht, gab es nie. Wozu dann all diese Bilder, wozu Sonette, Romane, Sonaten? Wozu Ästhetik, woher kommt das? Der Geist erhebt sich kategorisch über das, was das Organische braucht. Die Sphäre des Geistes ist evolutionär nicht vorgegeben, sie evolutioniert sich selbst.

Benito Salvarsani





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