AUSGABE 8
KUNST ODER KOMPENSATION
Über Kunstwollen und verfehlte Künstlerschaft
Aus der Lektüre der beiden Fassungen des Grünen Heinrich und des Anton Reiser zuletzt sogar durch eine harmlose aber aufrechte Komödie im Theater 44, Educating Rita, des mir bis dahin völlig unbekannten Autors Willy Russell, schöpfe ich ein Typologie der falschen oder verfehlten Künstlerschaft, die sich auf eine Mehrzahl heute publizierter Werke anwenden ließe, gleich welcher Gattung. Am schwersten, allerdings auch am offenkundigsten ist Literatur betroffen. Während in der Musik und in der bildenden Kunst zuerst immer das Handwerkliche den Boden des Tatsächlichen bildet, ist der Begriff des Handwerks in der Literatur viel schwerer bestimmbar. In der Musik ist mit viel Handwerk und wenig Talent immerhin noch einiges zu bestellen, aber selbst ein höheres Talent kann im Zeitlauf rasch untergehen, wenn der göttliche Funke fehlt. Sehr eindringlich wird dies in der Figur des Antonio Salierei, wie Peter Shaffer sie in seinem Stück Amadeus abgebildet hat. Salieri ist besessen vom Wahn des Kunstwollens, allein ihm fehlt das Genie, das Mozart naturwüchsig und scheinbar naiv besitzt. Die Zeitgenossen des ausgehenden 18. Jahrhunderts haben davon wohl nichts bemerkt, ihnen genügte Salieris handwerkliche Meisterschaft, die dem Zeitgeist näher stand.
Der Grüne Heinrich ist zuerst vom Künstlerseinwollen erfüllt, von Heinrichs Wunsch, ein Maler zu sein oder zu werden. Ausdrücklich steht der Wunsch, Maler zu werden, vor der Absicht oder dem Verlangen, eine Sache abbilden oder malen zu wollen. Darin ist die Ursache des Scheiterns schon angelegt. Nicht um einer Sache, sondern um eines Anscheins willen wird ein Entwicklungsweg begonnen, der ins Aussichtslose führt. Dieser Anschein ist als gesellschaftliche Rolle zu verstehen, die einer sich gibt, um Fehlstellen des Seins zu kompensieren, womöglich auch um in der Gesellschaft sich eine Position zu schaffen, die sowohl in ihr als außer ihr liegt. Der Künstler als Aristokrat des Bürgertums. Das vorhandene Talent täuscht über diesen Untergrund lange, zu lange hinweg. Der Grüne Heinrich will ein Maler werden, aber er weiß nicht, was er malen soll. Seine frühe Hinwendung zur Landschaft läßt sich als eine Art von Selbsttäuschung verstehen, als Abkehr von der Welt und Flucht zu sich selbst. Allzu oft läßt er sich dazu verführen, Phantasielandschaften zu erfinden, die allem anderen als dem Anspruch auf getreue Wiedergabe des Wirklichen genügen. (Wie anders übrigens der etwas akademisch-penible, aber zäh und unbeirrbar an sich arbeitende Heinrich im Nachsommer, und die vielen anderen Heinriche, die es in den Romanen zum Höheren zieht, auch Wilhelm Meister ist in dieser Hinsicht ein Heinrich par excellence). Landschaft läßt sich aber auch als ein Ersatzgegenstand verstehen, nämlich als Mutterersatz, insofern Landschaft Teil der Natur ist, Mutter Natur.
Man könnte sagen, der Grüne Heinrich ist jener Typus des Künstlers, dem der innere Auftrag fehlt, das Thema, der Gegenstand. Künstlerschaft hat eine Ersatzfunktion.
Noch schärfer, ja schonungslos wird dieser Typus im Anton Reiser herausgestellt. Reiser will Dichter werden, nicht um eines Gegenstandes willen, sondern um Achtung und Liebe der Welt zu gewinnen, um sich aus der Qual seines Unterdrücktseins also Nichtseins zu retten, um überhaupt etwas zu sein. Die Neigung zur Schauspielerei ist eine sowohl wirkliche als metaphorische Steigerung, ja Verzerrung dieses existentiell verstehbaren Verlangens. Er will Dichter werden, aber er hat im Grunde nichts zu sagen, jedenfalls nichts, was außerhalb der Sphäre seines eigenen Seins und seines Leidens an eben diesem Sein läge. Aus dem unübersichtlichen Substrat der empirischen Welt die Fiktion eines literarischen Textes zu kondensieren, wäre ihm versagt. Trotz einem fraglos vorhandenen, wenn auch instabilem Talent wächst er nicht über sich hinaus. Solche existentielle Verfassung trägt das Stigma des Scheiterns.
Talent hat bei solchen Menschen etwas Lebensfeindliches. Es erhebt sie über die Dumpfheit der Masse, die sich im Schlamm ihrer Beschränktheit wohlig wälzt, läßt sie auf Besseres und Höheres hoffen, heizt ein ungesundes Feuer von Erwartungen an, die es aber allein niemals erfüllen kann. Talent erweist sich dann als Teilbegabung, die auf Jahrmärkten kurzfristig bestaunt werden darf wie Rechenkünste eines ansonsten schwachsinnigen dummen August. Als solcher wird Reiser behandelt, und als solcher geht er unter.
Anton Reiser repräsentiert zum Teil jenen anderen Typus der verfehlten Künstlerschaft, wie er auch in Educating Rita vorgestellt wird, nämlich jenen eines akademisch geschulten Kunstwollens. Das Kunstwollen ersetzt auch hier den Gegenstand der Darstellung. Das künstlerische Suchen und Finden der Form wird von einem bewußten Willen zur Getaltung fehlender Substanz ersetzt. Gestaltung degeneriert zum abstrakten Prinzip. Es ensteht l'art pour l'art, Literaturliteratur etc., also all das, was seit Tristram Shandy des Kaisers neue Kleider liefert. Mit eitler Arno-Schmidt-Geste zieht sich das Kunstwollen epigonal und prätentiös ins Reihenhaus einer abgeschmackten Ironie zurück, auf hohle Sarkasmen einer abgebrühten literarischen Bildung (Politicky, Hettche, Biller et al.). Ein Lebenselend, wie es den Grünen Heinrich prägt oder einen Anton Reiser, kennen der kunstwollende Privatdozent der Germanistik oder zeitgeistliche Tempofeuilletonist nicht, und das Volk liebt ja die Pose.
Um den Gedanken auf einen Nenner zu bringen: Wo immer künstlerische Tätigkeit sich als kompensatorisch erweist, ist sie verfehlt. Es gibt viele Varianten kompensatorischer Kunst, man sollte sie benennen.
Natürlich gibt es das gelingende Kunstwollen in Tateinheit mit dem nicht gelingenden Leben in einigen Fällen. Edward Munch, dessen Schrei den Status einer Ikone des modernen Bewußtseins erworben hat, wollte Künstler werden, besaß das Genie, und sein Leben war elend genug, um Thema zu sein. Der Schrei ist sein Schrei. Kompensation wird hier fast naturwüchsig, ja selbstverständlich in Kunst transformiert. Aber wie gesagt, das sind Raritäten. Ein elendes Leben führen Millionen, kaum einer macht Kunst daraus, und dafür muß man wirklich dankbar sein. Genie ist rarer als die Seniorenschreibkurse (Abenteuer Schreiben) der Volkshochschulen glauben machen.
Anders verhält es sich mit jener Spezies Kunstwollender schwachen Talents, die hierzulande an den Förderungsinfusionen des öffentlichen Kulturbetriebs hängen und mit Steuermitteln herangemästet werden, um dann Erbärmliches zu bieten, das erst von einer Bande gewissenlos-konformistischer Rezensenten zu Kunst erklärt wird. Aber der vermedialisierte Betrieb braucht immer neue Namen, und eine Saison dauert maximal ein halbes Jahr. Kompensation wäre beim diesem Heer der Geförderten beinahe schon ein Gewinn, wenn da etwas wäre, das der Kompensation überhaupt bedürfte.
Zwei Namen möchte ich stellvertretend für diesen Typus nennen: Juli Zeh und Helmut Krausser. Das schwache Talent offenbart sich nicht nur in den literarischen Texten sondern noch weitaus entblößender in deren journalistischen Arbeiten, da wütet ungebremst das nackte Klischee, siehe dazu die Plattitüden, die Frau Zeh zum Zeitgeschehen in der ZEIT von sich gibt, oder die madigen Witzchen Herrn Kraussers aus Anlaß einer Deutschlandreise. Das ist gegenwärtig der letzte Schrei: fällt einem nichts mehr ein, wandert man mal eben nach Nowosibirsk und veröffentlicht ein Tagebuch darüber. Man darf eben nicht viel erwarten in einer Gesellschaft, die eine Donna Leon für die große authentische Künstlerin hält. Der Proseccodeutsche, der auch nach jahrelanger Italienerfahrung zum Spaghettiessen einen Löffel braucht, stellt keine hohen Ansprüche. Leid tun muß einem da einer wie Benjamin Lebert, dem man einblies, er sei des Schreibens mächtig, und nun hat er nichts gelernt, womit er sich durchbringen könnte.
Zu fordern wäre, daß die Kunstkritik sich des Gedankens der Kompensationskunst bewußter annimmt, und die Werke, die ihr vorgelegt werden, danach befragt, inwieweit sie Merkmale einer bloß oder sehr weitgehend kompensatorischen Tätigkeit enthalten.
Vielleicht wäre zu untersuchen, wie z. B. in den Beuysschen Unternehmungen ein Künstlerseinwollen bereits ausreicht, um noch den plattesten Ausdrucksversuch zur Kunsttätigkeit zu erhöhen. In dem programmatischen Satz jeder Mensch ist ein Künstler erfährt das Künstlerseinwollen seine ex-cathedra-Bestätigung vom Kunstpabst höchstselbst, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. So wird vielen labilen Jugendlichen als Ersatz ihrer eigentlichen Leere eine neue komplementäre Leere angeboten, aber in den Polstern der Sozialfürsorglichkeit kommt kein Existenzweh mehr auf. Nichts schmerzt.
Pater Palph de Fricassee
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