Anton im Land chaotischer Unmöglichkeiten: Weder blasser Held noch Master of the Universe
Er wollte nur raus aus der westlichen Gartenzwerg-Enge und im Umbruchs-Chaos der kollabierenden Sowjetunion möglichst weit im Osten seine Kohle scheffeln: Der 32jährige Anton war Controller in New York und wechselte Anfang der 1990er Jahre als Mister Fixit zu einem umtriebigen Rohstoff-Dealer nach Moskau, wo er mit aberwitzigen Extremen konfrontiert wird. Arthur Isarin (sein Pseudonym ist inzwischen gelüftet) beschreibt in seinem grandiosen Roman „Blasse Helden“ sowohl Sex and Crime- Aspekte als auch abstoßende Plutokraten-Exzesse. Von Peter Münder.
„Es war berauschend, inmitten eines archaischen Konflikts zu sein. Und es war anders, als er es sich vorgestellt hatte, anders als die heitere Maueröffnung in Berlin, als die Guten siegten und sich anschließend alle lieb hatten. Je weiter östlich er kam, desto unbarmherziger wurden die Auseinandersetzungen“. Isarin, Blasse Helden
Anton hatte noch während seines Controller-Jobs in New York Russisch-Unterricht genommen, weil er unbedingt im abenteuerlichen Osten die westliche, allzu betuliche Erbsenzähler-Idylle hinter sich lassen wollte. Dann stellte ein Onkel den Kontakt zum umtriebigen, aber völlig überforderten Rohstoffhändler Ehrenthal her, der Anton in Moskau sofort als Problemlöser und Mann für alle Fälle einstellte.
Ehrenthals Lieblingsmaxime lautet „Die Welt verläuft nicht linear“ – der Spruch ging Anton zwar furchtbar auf den Geist, entsprach aber völlig seiner eigenen Sichtweise in diesen sprunghaften Zeiten während des sich auflösenden sowjetischen Systems. Mit gelassener Abgeklärtheit bewegt er sich im Haifischbecken dieses durch und durch korrupten Apparats: Dem Chef eines Stahlkombinats, auf dessen pünktliche Lieferungen für chinesische Abnehmer er dringend angewiesen ist, werden üppige Bestechungsgelder für zwei Minister und den Gouverneur, für eine KGB-Tarnorganisation, Banker und leitende Angestellte sowie für diverse Offshorefirmen überwiesen. Auch die Schweizer Konten der Ehefrau sowie der Geliebten des Kombinatsleiters werden aufgefüllt, bevor es darum geht, für die höheren Ränge neue Autos zu bestellen. Diesen kapitalistischen Raubtier- Kodex des wilden Ostens bringt Anton so auf den Punkt:
„Jeden Tag drohte Vertreibung … nie gehörte einem etwas wirklich, wer nicht von Beginn an alles zusammenraffte und unauffindbar verschwinden ließ, galt als Idiot.“
Kein Wunder also, dass er angesichts dieses irren, aber allgemein akzeptierten Systems dieses parasitäre Raffke-Prinzip für „höchst rational“ hält, auch wenn es ihm gegen den Strich geht.
Ungehalten wird Anton erst, als Igor noch erwartet, Tipps für die Anmeldung seines nur kümmerlich Englisch parlierenden Sohnes auf dem englischen Elite-Internat „Atom“ zu bekommen: Er meint natürlich Eton College (was im Buch mehrmals falsch als „Eaton“ bezeichnet wird); Anton reagiert darauf irritiert und verärgert, weil er diese Weichenstellung für zukünftige Plutokraten-Karrieren grundsätzlich für plump und dumm hält. Sein ätzender Kommentar zeigt, mit welch analytischem, ironisch eingefärbtem Scharfsinn er die Auswirkungen dieses „Alles ist käuflich“- Kalküls erkennt und eine krasse Kulturkluft prophezeit:
„Die Auslagerung der Brut in Nobelinternate führte unweigerlich zu irreparablen Zerwürfnissen in den Familien. Bereits beim ersten Wiedersehen mit den Eltern wurden diese vom Nachwuchs als neureich gekleidete Emporkömmlinge erkannt, deren Tischmanieren zu problematisch waren, um weiter mit ihnen zu verkehren … Die einmal in Oxbridge oder an der LSE sozialisierten Blagen kehrten nie mehr in das Land ihrer grobschlächtigen Vorfahren zurück.“

Michail Lermontow
Ein blasser Held?
Sehr luzide kann Anton die gesellschaftspolitischen Verwerfungen um sich herum analysieren, großzügig seine Dollar-Boni kassieren und im Plutokraten-Dorado „Fellinis“ beim Verzehr von Kaviarschnitten und reichlich Schampus wieder ausgeben. Von den herrlich lasziven und amüsanten russischen Frauen lässt der Hedonist sich intensivst verwöhnen. Für Russinnen ist er ein attraktiver Lieblingsheld, weil er charmant und witzig ist und sein Russisch so originell und sympathisch klingt. Er bewundert ihre Lässigkeit, Hingabe und Stärke, was ihn angesichts der vielen nörgelnden, alkoholisierten und unfähigen Männer in leitenden Positionen dazu bringt, für eine Art Firmen-Matriarchat zu plädieren. Er prahlt weder mit seinem zusammengerafften Vermögen noch lässt er gegenüber den ehemaligen Kolchosentrampeln den schlauen, erfolgreichen Besser-Wessi raushängen. Und einen betörenden Sinn für Humor und funkelnde Ironie besitzt er ohnehin. Wieso sollte Anton also ein „blasser Held“ sein? Nur weil er ein Porträt des berühmten russischen Autors Michail Lermontow (1814-1841, im Duell getötet) in seiner Moskauer Wohnung hängen hat, dessen Romanheld Petschorin sich selbst als „überflüssigen“ Menschen und blassen Helden bezeichnet?
Anspielungen auf Lermontov, Puschkin („Eugen Onegin“) und Turgenjew („Rudin“), dazu noch Antons Faible für russische Komponisten wie Tschaikowsky und den Pianisten Swatoslaw Richter verweisen auf ein Kulturverständnis, das nicht nur bereichernd, sondern auch beruhigend wirkt: Mitten in all den aufregenden, aber auch zermürbenden Konflikten um Vertragsverletzungen, ausbleibende Lieferungen und massive Bedrohungen durch verärgerte Kunden und Konkurrenten kommt der Kultur – egal ob es um Autoren des 19. Jahrhunderts oder um Tschaikowsky geht, für Anton ein besonderer Stellenwert zu. Die Schwärmerei für den ein Jahr in den Kaukasus verbannten Lermontow ist natürlich eine übernommene romantische Attitüde für einen in der Byron-Tradition stehenden Childe Harold-Außenseiter, aber Anton teilt mit diesen Figuren den Hang zur intellektuellen Selbstanalyse: „In mir sind zwei Menschen“, räsonniert etwa Lermontows Petschorin, „der eine lebt im vollen Sinne dieses Wortes, der andere überdenkt und beurteilt ihn“.
Zum romantischen Unterhaltungs-Spektakel gehört auch die Szene mit dem dressierten Braunbär, der sich auf einer wilden Party, angeheuert von der Agentur „Bär und Mehr“ auf einem Sofa räkelt, furchtbar stinkt und furzt, während sein besoffener Wärter sich mit Vodka abfüllt. Daraus wird ein symbolträchtiger Vorgang , als der Bär verschwindet, der Wärter keine Kontrolle mehr über ihn hat und die Party-Gäste nachts im Park nach dem Tier suchen: Nicht nur der russische Bär ist abgetaucht, das gesamte russische Polit- und Wirtschafts-System läuft völlig aus dem Ruder, wer weiß schon, wie sich das alles weiter entwickelt?
Einige brutale Zwischenfälle werden für Anton schließlich zum Erweckungserlebnis, das ihn aus seinen romantisierenden Illusionen über ach so berauschende, archaische Konflikte zurück in die ernüchternde Realität katapultiert: Bei einer nächtlichen Straßenkontrolle während der Ausgangssperre wollen Soldaten seine Geliebte vergewaltigen, beim Besuch im gigantischen sibirischen Steinkohle-Becken von Kuznek erlebt er das korrupte System von Ausplünderung, Inkompetenz und primitiver Macho-Drangsalierung der weiblichen Mitarbeiter so unerträglich und exzessiv, dass er mit massiven Drohungen den im Perma-Rausch dösenden Leiter zur Einhaltung der Lieferverträge zwingt. Plötzlich entdeckt Anton auch seine soziale Ader: Der raffgierige Kombinatschef muss einige seiner mit Betrugsmanövern erworbenen Immobilien an die Mitarbeiter abgeben. Anton begnügt sich also nicht mehr mit schöngeistigen Betrachtungen, sondern interveniert mit handfesten Aktionen, die man von einem blassen Helden wahrlich nicht erwartet hätte.
Der Prozeß seiner Desillusion wird stark beschleunigt und intensiviert, als man auf ihn schießt und er vom Geheimdienst bedrängt wird, ein dubioses Geschäftsmodell zu unterstützen, das auf purer Ausplünderung staatlicher Ressourcen und massivem Betrug beruht – diese Allianz mit staatlichen Instanzen will Anton auf keinen Fall eingehen; daher beschließt er spontan, seine Zelte nach neun Jahren in diesem Land der unbegrenzten Zumutungen sofort abzubrechen, was ihm gerade noch gelingt.
Autobiographische Impressionen? Wer ist der Autor?
Wer nun fragt, ob der Roman auf autobiographischen Erlebnissen beruht und wer sich eigentlich hinter dem Pseudonym Arthur Isarin verbirgt, wird überrascht. Denn nach der Buchveröffentlichung im Frühjahr gingen Kritiker und Leser bisher davon aus, dieser Autor würde tatsächlich, wie im Klappentext verkündet, im australischen Queensland leben und hätte sich sein hübsches Pseudonym aus Angst vor den Repressalien russischer im Roman entlarvter Businessmen zugelegt. Wie die FAZ jetzt enthüllen konnte, lebt der Autor aber in Bukarest: Hinter Isarin steckt Norris von Schirach, der ein Jahr ältere Bruder des prominenten Autors Ferdinand von Schirach. Norris von Schirach wollte offenbar nur vermeiden, als Promi-Faktor von den Medien instrumentalisiert zu werden. Er hat in London beim Versicherer Lloyds gearbeitet, dann als Comtroller in New York, in Konstanz studiert und tatsächlich, wie in „Blasse Helden“ beschrieben, in Moskau als Rohstoffhändler gearbeitet.
Auf Queenstown als Aufenthaltsort kam er, weil er Anteile an einer australischen Kupfermine besitzt – außerdem schien diese ferne Location auch ideal, um neugierige deutsche Journalisten von einem Besuch abzuhalten. Daher gab es im Klappentext des Romans auch kein Photo von ihm.
Wie auch immer – „Blasse Helden“ ist ein aufregender, faszinierender und bewegender Roman geworden. Die darin beschriebenen Irrungen/Wirrungen, die Einblicke in kollabierende gesellschaftliche Prozesse sowie die Offenbarung pulverisierter ethisch-moralischer Normen sind aufwühlend und überzeugend. Was auch daran liegt, dass Plot, Figuren, Dialoge und das gesamte Ambiente dieser russischen Umbruchs- und Aufbruchs-Phase – inklusive der Turbulenzen während der Jelzin-Rebellion, in die Anton ja auch gerät – nie antizierbar sind und immer wieder für groteske Überraschungen gut. Burleske Szenen eines individualistischen Hedonismus und der kritische Blick über den Tellerrand zum großen archaischen Chaos verschmelzen hier zum fulminanten Gesellschaftsroman.
Der Autor hat übrigens angekündigt, schon den nächsten Band vorzubereiten, in dem wir Anton in New York (als „Art of the Deal“-Betrüger im Trump-Stil oder als „Master of the Universe“ frei nach Tom Wolfe?) erleben können. Das wird hoffentlich auch wieder ein großartiger Lesegenuß. Wenn ich aber nach der Lektüre dieses überragenden Romans einen Wunsch frei hätte: Bitte nicht nur 318 Seiten, sondern möglichst doppelt so viel liefern! Diesen eindrucksvollen Pageturner konnte ich jedenfalls nicht aus der Hand legen – möge mein Ruf nach üppigerem Umfang also erhört werden!!!
Peter Münder
Arthur Isarin: Blasse Helden. Knaus Verlag, München 2018. 318 Seiten, 22 Euro.