Geschrieben am 6. Juni 2015 von für Crimemag, Kunst

Ausstellung: Ori Gersht – NaturGewalten

AKS_Kat_OriGersht_Umschlag_lay04.inddZwischen Zerstörung und Schönheit

– Bis zum 14. Juni 2015 zeigt das Sinclair-Haus in Bad Homburg Fotografien und Videos des israelischen Medienkünstlers Ori Gersht. Die erste deutsche Einzelausstellung des 48-jährigen Wahl-Londoners und der zugehörige Katalog machen aufmerksam auf Gershts eigenwillige Annäherung an die Verbrechen unsichtbarer Vergangenheiten. Von Kerstin Schoof

Wie kann Vergangenheit greifbar, längst vergangene Erfahrungen erlebbar werden? Ori Gershts Fotografien und Filme stellen sich diese Fragen anhand der Schauplätze vergangener Kriege und Verbrechen, die oftmals keinerlei Spuren der dort stattgefundenen Geschehnisse aufweisen. In der Ausstellung „NaturGewalten“ sind es Landschaften, die auf diese Weise in den Fokus rücken: Gersht fotografiert einsame Lichtungen und Waldstücke, ein kleines Dorf an einem Berghang, überbelichtete Olivenbäume und Zypressen, karge Bergpfade in den Pyrenäen. Seine farblich verfremdeten, stark ästhetisierten Aufnahmen könnten dekorative Poster sein, verweisen jedoch auf den Überlebenskampf von Menschen auf der Flucht. So zeigt „Drape 03“ aus der Serie „Liquidations“ den Wald in der Nähe des KZ Sobibor, in dem sich Häftlinge versteckten, nachdem sie aus dem Lager geflohen waren. „The Mountain“ (2005) ist eine Aufnahme von Kosov, des kleinen Heimatdorfs seines Schwiegervaters in der Ukraine, der als kleiner Junge Massaker und Hinrichtungen durch die deutsche Besatzungsmacht miterlebte.

Ori Gersht, Evaders, 2009 (© Ori Gersht)

Ori Gersht, Evaders, 2009 (© Ori Gersht)

Im Film „The Forest“ macht Gersht schließlich deutlich, wie die Darstellung eines (Natur-)Ortes als Denkmal funktionieren kann: Als Zuschauer befindet man sich inmitten eines Waldstücks, das nicht überblickt werden kann. Die sonnige Idylle wird durchbrochen von fallenden Bäumen: mal lautlos, mal von einem ohrenbetäubenden Krachen begleitet, das eher Maschinengewehren oder Bombeneinschlägen gleicht, manchmal nur angedeutet in der Ferne. Ob die Bäume für die vor den Soldaten in den Wald geflüchteten Bewohner des Dorfes Kosov stehen oder für die Katastrophe, die über die Menschen hereinbricht, wenn sie von den Liquidationskommandos entdeckt werden – Gersht gelingt es, Bilder und Ereignisse, das Warten und die unerträgliche Anspannung als einen zweiten, parallelen Film entstehen zu lassen.

Ori Gersht, Evaders, Far Off Mountains And Rivers, 2009 (© Ori Gersht)

Ori Gersht, Evaders, Far Off Mountains And Rivers, 2009 (© Ori Gersht)

Walter Benjamin_Geschichtsphilosophische ThesenBenjamin als Leitmotiv

Klar und explizit wird Gershts Herangehensweise an Geschichte und Erinnerung in seinem Werk „Evaders“, das aus einem Film und assoziierten Fotografien besteht. Ästhetisch etwas unentschlossen zwischen Dokumentarfilm und künstlerischem Video, thematisiert er Walter Benjamins Flucht über die „Lister-Route“ an der französisch-spanischen Grenze, ein Weg durch die Pyrenäen, den zahlreiche politische Flüchtlinge und Intellektuelle wie Heinrich und Golo Mann oder Franz Werfel in den 1930er-Jahren nahmen, um aus Europa zu emigrieren. Im Hotelzimmer zitiert er Benjamins Ausführungen zu Klees „Angelus Novus“, dem Engel der Geschichte, der im Blick zurück statt historischem Fortschritt nur die Schrecken der Vergangenheit sehen kann, die sich vor ihm auftürmen. Gersht etabliert hier Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen“ als ein Leitmotiv, das auf seine weiteren Arbeiten ausstrahlt: verfasst kurz vor Benjamins Selbstmord in Port Bou, stellen sie eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Erinnerung und dem Aufscheinen der Hoffnung in Situationen größter Ausweglosigkeit dar.

„Evaders“ verweist jedoch auch auf die aktuelle Dimension der verzweifelten Lage von Flüchtlingen und macht die Anstrengungen auf dem Weg durch eine widrige Natur spürbar. Gershts Walter Benjamin, der mit Mantel und Aktentasche karstige Bergfelsen durchquert, visualisiert zudem eine nicht lang zurückliegende europäische Flüchtlingsdramatik, die die klar verteilten Rollen in den aktuellen Diskursen um afrikanische „Wirtschaftsflüchtlinge“ und die Festung Europa in Frage stellt.

Ori Gersht, Will You Dance For Me (Film Still), 2011(© Ori Gersht)

Ori Gersht, Will You Dance For Me (Film Still), 2011(© Ori Gersht)

White Noise

Am eindringlichsten sind Gershts Werke immer dann, wenn sie leise und unauffällig vorgehen und ganz ohne symbolische Aufladung auskommen: Die Serie „White Noise“ besteht aus Bildern, die er auf der Eisenbahnstrecke zwischen Krakau und Auschwitz aufgenommen hat. Verschwommene Bilder aus dem Zugfenster, die die persönliche Auseinandersetzung nur erahnen lassen: den bewussten Versuch, sich am Ort des Geschehens aktiv zu erinnern und zu verstehen.

Kerstin Schoof

Ausstellung: Ori Gersht: NaturGewalten. Museum Sinclair-Haus, Löwengasse 15, 61348 Bad Homburg v. d. Höhe.
Katalog: Ori Gersht: NaturGewalten – Filme und und Fotografien / Forces of Nature – Film and Photography. Hrsg. von Andrea Firmenich und Johannes Janssen. Deutsch /Englisch, 120 Seiten, 92 Abbildungen in Farbe. München: Hirmer Verlag 2015. 29,90 Euro.

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