
Ein gewichtigerer deutscher Familien- und Gesellschaftsroman als die „Buddenbrooks“
Den besten, und bedeutsamsten, deutschen Familien- und Gesellschaftsroman seit der Publikation von Thomas Manns „Buddenbrooks“ (1901), nun können wir ihn endlich lesen, den Roman „Effingers“ von Gabriele Tergit – ein großes Glück, das wir der Herausgeberin Nicole Henneberg und dem Schöffling Verlag verdanken. Sie haben den Roman 2019 herausgebracht – siebzig Jahre, nachdem Gabriele Tergit das Manuskript 1948 vollendete. Dass er dem deutschen Publikum so lang unzugänglich war, ist eines der traurigen Kapitel in der Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur.
Es ist ein großes Glück – denn die Zeit vor dem NS-Regime und dem Zweiten Weltkrieg scheint uns seltsam fern und fremd geworden. Im Unterschied etwa zu England und Frankreich ist die unmittelbare Vergangenheit hier zu Lande ja auch literarisch kaum präsent. Im kollektiven Bewusstsein ist in dieser Beziehung neben den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann eigentlich nur Theodor Fontane mit „Effie Briest“ und „Der Stechlin“ breit und fest verortet – und diese drei Erzählwerke schildern notabene familiäre und gesellschaftliche Entwicklungen des vorvorigen Jahrhunderts. Was danach kam, ist literarisch sozusagen unterbelichtet.
Dank der Veröffentlichung von Gabriele Tergits „Effingers“ ist dieser Notstand jetzt behoben. Thomas Manns großer Erstlingsroman spielt von 1835 bis in die 1870er Jahre. Die beiden Spätwerke Theodor Fontanes spiegeln das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Gabriele Tergit aber erzählt von der Zeit zwischen 1878 und 1939.
Was Gabriele Tergits „Effingers“ zu einem einzigartigen deutschen Familien- und Gesellschaftsroman macht
Gabriele Tergits Roman „Effingers“ herausragende Bedeutung lässt sich an weiteren Unterschiede verdeutlichen. Erstens: Thomas Mann und Theodor Fontane haben regionale Hauptschauplätze gewählt – die Hansestadt Lübeck an der Ostsee, das Havelland bzw. Mark Brandenburg; Gabriele Tergit aber schreibt von Berlin, der Hauptstadt, der Kulturmetropole und dem Wirtschaftszentrum des Deutschen Reiches wie der Weimarer Republik. Zweitens: Bei Thomas Mann und bei Theodor Fontane bildet ein traditioneller höherer Stand – in der stationären Enge eines Patriziertums bzw. des alt – preußischen Landadels – den Mittelpunkt des sozialen Geschehens und perspektivischen Erzählens; bei Gabriele Tergit ist es ein breit aufgestelltes, sozial aufstrebendes Bürger – und Großbürgertum. Drittens: Die Briests und Stechlins repräsentieren eine Gesellschaftsschicht im Stillstand an der die Zeit vorübergeht. Die Buddenbrooks sind eine Familie, die – quasi mit genetischer bzw. kulturideologischer Unabänderlichkeit – einer Degeneration und Dekadenz anheimfällt. Die Effingers dagegen repräsentieren eine dynamische, höchst aktive Klasse, die ihre Zeit gestaltet und prägt – dass sie am Ende alles verliert, ist Folge einer politischen Entwicklung, in der sie gewaltsam ihrer Existenzgrundlagen und Handlungsmöglichkeiten beraubt wird. Gabriele Tergits Familien- und Gesellschaftsroman ist ein von Grund auf (politischer Roman), der auf einen zentralen Zeitraum der deutschen Zeitgeschichte auf einmalige Weise literarisch verarbeitet und vergegenwärtigt.
Wie dieser Roman von deutschen Verlagen nach 1945 falsch gelesen, abgelehnt und als jüdische Buddenbrooks missverstanden wurde
Als Gabriele Tergit (1894 – 1982) ihren Familienroman zu schreiben begann, war sie – dank ihrer Satire auf den hauptstädtischen Kulturbetrieb mit dem Titel „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ – eine berühmte, erfolgreiche Schriftstellerin. Am 5. März 1933 froh sie aus Berlin, nachdem sie vom einem SA-Trupp in ihrer Wohnung überfallen worden war; sie war den Nazis wegen ihrer Tätigkeit als scharfsichtige Gerichtsreporterin für führende Berliner Zeitungen besonders verhasst. Warum aber stieß sie immer wieder auf Ablehnung, als sie 1949/50 – aus dem Londoner Exil zurückgekehrt – deutschen Verlagen das abgeschlossene „Effinger“-Manuskript anbot? Das Konzept hatte ihren Verleger Ernst Rowohlt ursprünglich doch über die Maßen „entzückt“.
Sie musste feststellen, dass sie sich politisch zwischen alle Stühle gesetzt hatte. „Den deutschen Lektoren“, bemerkt Nicole Henneberg in ihrem Nachwort zur Schöffling-Edition: „galt ihr Buch als jüdisch und 1950 damit als ethisch schwierig. – bei Ullstein lehnte man ab mit dem Hinweis, nach diesem Krieg dürften Juden nur als edle Menschen dargestellt werden. Dieses Argument fand die Autorin historisch unhaltbar und lächerlich. Die gläubigen Juden kritisierten die sehr preußischen und patriotischen, überdies bürgerlich-verschwenderischen Hauptfiguren, während die Zionisten beklagten, dass Israel nur eine marginale Rolle spiele und der Zionismus als autoritäre, dem Judentum zutiefst widersprechender und gefährlicher, ja faschistischer Irrweg dargestellt würde.“ Den Verlagen aber war so unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust nicht nur aus Gründen der „political cotrrectness“ bange. Sie glaubten zudem, dass für dieses Buch weder im Buchhandel noch im Publikum Interesse bestünde, und hatten damit recht. Denn als er 1951 dann noch herauskam, bei Hammerich & Lesser, kamen für diese „ jüdischen Buddenbrooks“, wie es in eine der wenigen Rezensionen apostrophiert wurde, aus bloß rund dreißig Buchhandlungen Bestellungen. (In späteren Ausgaben ist er dann um etwa zwanzig Prozent gekürzt und in der literarischen Verstümmelung untergegangen.)
„Das untergegangene Berlin … in einem der großen Werke des Exils“ – Jens Bisky in „Berlin. Portrait einer großen Stadt“
„Was meine ‚Effingers‘ angeht, so ist es nicht der Roman des jüdischen Schicksals, sondern“, wie sie ihren alten Verleger Ernst Rowohlt 1949 8n einem Brief korrigierte,“ es ist ein Berliner Roman, in dem sehr viele Leute Juden sind, so wie im ‚Käsebier‘ viele Leute Juden sind, und das ist etwas ganz anderes“ und sie warnte, dass man „einen großen Fehler machen würde, wenn man ein so stark deutsch kulturgeschichtliches Buch als jüdisches Buch anzeigen würde“.
Sie hat völlig recht. Ihr Roman „Effingers“ bietet ein unvergleichliches Bild Berlins von der Bismarckschen Zeit bis zur Hitlerschen Epoche, malt am Beispiel Berlins ein unvergessliches Bild der Entwicklung Deutschlands vom Handwerkertum zu Technik und Industrie, vom Glauben des 19. Jahrhunderts an den Fortschritt zu jugendlicher Rebellion, vom spartanischen Preußen zu wilhelminischem Luxus und zur Ablösung von engen bürgerlichen Vorstellungen durch die künstlerischen Freiheitsbewegungen und ein neues Verständnis der Frau in den 1920er Jahren. Er zeigt, wie die Menschen mit den Umwälzungen durch den Ersten Weltkrieg und den späteren Wirtschaftskrisen fertig wurden. Er singt ein Hoheslied über die eigenständige Dynamik von Bürgertum und Gesellschaft in Berlin, und in diesem wunderbaren Epos spielen die jüdischen Berliner eine bedeutende Rolle, so wie sie in der realen Lebenswelt Berlins von großer Bedeutung gewesen sind.
Das alles besticht durch seine Authentizität und Intensität, weil Gabriele Tergit selbst aus dieser jüdischen Welt stammte, die einen festen, integrierten Bestandteil dieses Berlin bildete, und dieses ihr geliebtes Berlin in einem anschaulich genauen Erinnerungsbild festzuhalten suchte, nachdem sie von dort vertrieben und Berlin zerstört worden war.
- Gabriele Tergit, Effingers. Roman. Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg. Schöffling, 899 S., 38 Euro
https://www.schoeffling.de/buecher/gabriele-tergit/effingers
PS von TW: Wem eine Verbindung dieses Buches zu CrimeMag schleierhaft zu sein scheint – Gabriele Tergit war neben vielem anderem auch eine Pionierin der Gerichtsreportage auf höchsten Niveau: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/crime-watch-6