Geschrieben am 16. Dezember 2017 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2017

Bericht: Die Tübinger Poetik-Dozentur

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Kollektiven Ängsten auf der Spur

von Frank Rumpel

Bei der Tübinger Poetik-Dozentur wagen die Organisator/innen auch mal Ungewöhnliches. Dazu darf man durchaus auch die diesjährige Beschäftigung mit dem Kriminalroman zählen. Der wird zwar reichlich gelesen, doch im universitären Umfeld noch längst nicht wirklich ernst genommen. Gemeinhin wird er noch immer vielerorts als schnöde Unterhaltungsliteratur gesehen, nichts, mit dem man sich wissenschaftlich beschäftigen müsste. Das ändert sich gerade. Zu sehen ist das etwa auch am Thema der diesjährigen Tübinger Poetik-Dozentur, wenngleich es dabei nicht um streng  wissenschaftliche Vorträge geht. Vielmehr sollen die Autor/innen über ihr Schreiben reflektieren und zwar so, dass es auch für ein außeruniversitäres Publikum interessant ist. In diesem Jahr waren Friedrich Ani, Arne Dahl, Wolfgang Schorlau und Håkan Nesser zu Gast (siehe auch das Interview mit der Organisatorin Prof. Dorothee Kimmich). Und wenn Krimiautoren über ihr Schreiben sprechen, so durfte man annehmen, beschäftigen sie sich wohl zwangsläufig auch mit dem literarischen Genre, in dem sie sich bewegen. Das taten alle vier Autoren und fanden dafür sehr unterschiedliche Zugänge. Hier ist ein kleiner Überblick.

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Die Schicksale der Verschatteten

Er sehe sich, sagte Friedrich Ani gleich vorneweg, als Schriftsteller, der Kriminalromane schreibt und nicht als Krimiautor, der auch Schriftsteller sei. Wie er dazu wurde, erläuterte Ani in einem sehr persönlich gehaltenen Vortrag. Der Beginn seines Schreibens sei Schweigen gewesen. Aufgewachsen in einem bayrischen Dorf sei er als Junge viel in seinem Zimmer gesessen und sein Schweigen, in dem er sich wohlfühlte, weitete sich nach und nach zu einem „unterirdischen Tunnelsystem“. Ein einschneidendes Erlebnis seiner Kindheit war der Tod seines Großvaters. Der starb an einem 22. Dezember vor über 50 Jahren im Krankenhaus. Der junge Friedrich Ani erfuhr es von seiner Mutter, die ihn anschließend in sein Zimmer schickte. Dort hockte er, wie er sagte, wahrscheinlich nur zwei Stunden, aber die reichten aus, „um mich zu dem werden zu lassen, der ich heute bin: ein Mann in einem gottlosen Zimmer“. Der Großvater war ein wichtiger Vertrauter für ihn. Seine Stimme, sagte Ani, „pflanzte ein Echo in mir“. Später habe er dieses Echo in eine Stimme umgewandelt, die die seine sei. Sein Großvater war es auch, der ihm „die Schicksale der Verschatteten“ hinterließ, über die er bis heute schreibt. Denn der hatte zwei Weltkriege überlebt, war vertraut „mit den Gesichtern der Geschundenen, wie jenen der Täter und der am Wegesrand Vergessenen“.

Schon als Schüler schrieb Ani Gedichte und wählte sich seinerzeit ein Pseudonym: Tabor Süden. Das griff er etliche Jahre später wieder auf, als sein schweigsamer Ermittler einen Namen brauchte. Zunächst aber schrieb er einen Roman, von dem sich in 14 Jahren ganze 1124 Stück verkauften. Dennoch machte er weiter, veröffentlichte, bekam den Deutschen Krimipreis. Warum eigentlich? „Weil ich ein Kriminalschriftsteller geworden war“, sagte Ani und zitierte seinen britischen Kollegen Derek Raymond, der in seinen Erinnerungen „Die verdeckten Dateien“ schreibt, der Noir habe das Ziel, „Menschen dem miesen psychischen Wetter vor ihrer Haustür auszusetzen, wo alles und jeder von einem erbarmungslosen Regen aufgeweicht worden ist, der sich aus den Seelen der Menschen dort draußen ergießt. Es gibt ihn, damit Menschen begreifen, was Verzweiflung wirklich ist“. Und gerade deshalb, sagte Ani, „lehrte mich der Krimi, das mir gemäße Sprechen auf dem Papier“.

Reise ins Dunkel

Die Kriminalliteratur, sagte der schwedische Autor Arne Dahl, der im richtigen Leben Jan Arnald heißt, habe sich in eine außergewöhnliche literarische Gattung verwandelt, die nicht zuletzt in der Lage sei, die großen Fragen der Menschheit anzugehen. Dabei sei Kriminalliteratur eigentlich nichts Neues. In vielen großen Texten gehe es um den Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. „Das ist die Tragödie“, sagte Dahl. Und: „Wir brauchen die Tragödie, um in jene dunklen Bereiche unseres Verstandes einzutauchen, die immer noch mit den vorzivilisatorischen Zeiten verbunden sind.“ Die Tragödie freilich führt nicht nur ins Dunkel, sondern auch immer wieder ans Licht. Der Kriminalroman, sagte Dahl, „ist die Tragödie der modernen Welt“. Doch um literarisch mit dem Bösen in dieser Welt umgehen zu können, „muss man die Tragödie in eine Komödie verwandeln“.

Der promovierte Literaturwissenschaftler Jan Arnald hatte Mitte der 1990er Jahre bereits ein paar Romane geschrieben, kam aber nicht weiter. Er wollte, erzählte er, weg vom introspektiven Schreiben des Jan Arnald und hin zu relevanten, gesellschaftlichen Themen. Dabei halfen ihm nicht zuletzt die Zeitumstände auf die Sprünge. Das schwedische Interesse an Kriminalität und Polizeiarbeit begann laut Dahl wohl im Februar 1986. Damals wurde der schwedische Ministerpräsident Olof Palme ermordet – ein Fall, der bis heute nicht aufgeklärt ist. Die Polizei bekleckerte sich bei den Ermittlungen nicht eben mit Ruhm, so dass die Verschwörungstheorien ins Kraut schossen. „Damals hatte fast jeder eine Idee, wer hinter dem Mord steckt“, sagte Dahl. Anfang der 1990er Jahre tötete der Neonazi John Ausonius elf Migranten. Und auch andere Faktoren, wie der EU-Beitritt 1995 hätten die schwedische Gesellschaft in jenen Jahren verändert. „Das Bullerbü-Idyll jedenfalls hatte ausgedient.“

Diese Ereignisse und Veränderungen hätten in der schwedischen Bevölkerung Furcht gesät und „Risse in der dünnen Haut der Zivilisation“ sichtbar gemacht. Für Krimiautoren freilich war das ein guter Nährboden, sagte Dahl, sei es doch deren Aufgabe, die Ängste der Menschen aufzusammeln, sie in die Form einer Tragödie zu gießen und diese in eine Komödie zu verwandeln. Schließlich gewinne im Kriminalroman normalerweise die Zivilisation. Er selbst veröffentlichte seinen ersten Kriminalroman 1998 unter dem Pseudonym Arne Dahl, das brauchte er, wie er sagte, um sich vom Autor Jan Arnald und dessen Themen lösen zu können.

Ängste aufgreifen

Der Stuttgarter Autor Wolfgang Schorlau sprach vor allem über die aufwändigen Recherchen zu seinen Romanen, in denen er sich mit spektakulären Fällen der jüngeren deutschen Geschichte oder mit den Machenschaften von Pharmakonzernen und Fleischindustrie beschäftigt. Es sei mehr als erstaunlich, sagte Schorlau, dass die großen politischen Kriminalfälle in Deutschland seit den 1960er Jahren nicht zweifelsfrei aufgeklärt seien. Der 66-jährige nannte den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest, die Ermordung von Detlef Rohwedder, dem ersten Präsident der Treuhandanstalt oder eben die NSU-Morde. Er versuche, sagte Schorlau, sich realen Fällen mit literarischen Mitteln zu nähern und so auf  „verbrecherische Konstellationen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“ aufmerksam zu machen. Da, wo Polizei und Justiz „offenbar versagen, muss es der Literatur erlaubt sein, diese Fälle erneut zusammenzufügen“, sagte Schorlau. Und welche Gattung sei dafür besser geeignet, als der Kriminalroman, in dem er eben ein „Mittel zur gesellschaftlichen Analyse in künstlerischer Form“ sieht.

Und wie kommt er nun an seine Informationen? Zum Teil auf recht ungewöhnliche Art und Weise. So wollte er sich etwa näher mit dem NSU beschäftigen, merkte aber schnell, dass die ganze Geschichte zu groß ist. Erst als er auf verschlungenen Wegen Zugang bekam zu einem Aktenbestand über die Vorfälle in Eisenach (wo die beiden mutmaßlichen NSU-Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt tot aufgefunden wurden), zeichnete sich eine Geschichte ab. Zumal er beim Durchackern der Akten merkte, „dass die offizielle Geschichte einfach nicht stimmt“. Die Recherchen zu diesem Buch seien die anstrengendsten gewesen, die er jemals gemacht hatte.

Da kam nicht mal die Recherche zu seinem im kommenden Frühjahr erscheinenden Roman „Der große Plan“ mit. Er wollte herausfinden, auf welches Konto eigentlich die Milliarden für die Griechenlandhilfe überwiesen wurden und es dauerte ein Jahr, bis er es wusste – „nur so viel: es floss nicht nach Griechenland“.

Die aufregendste Recherche aber war wohl jene zum Roman über den Oktoberfest-Anschlag 1980. Die habe nämlich ganz unerwartet begonnen, erzählte Schorlau und beteuerte, dass es wirklich so  passiert sei. Eines Abends habe er einen Anruf bekommen. Ob er der Krimiautor sei, fragte ein Mann und bot ihm interessantes Material an. Schorlau fragte, von wo er denn anrufe und der sagte: Wir stehen vor ihrer Tür. Schorlau überlegte kurz, schnappte sich seine Jacke, ging hinunter auf die Straße. Da saßen zwei Männer, die dem Aussehen nach Polizisten sein konnten, in einem Auto. Sie brachten ihn an einen unbekannten Ort, wo er den Rest der Nacht Gelegenheit hatte, Akten zum Attentat auf das Oktoberfest zu lesen. „Da wurden wesentliche Aussagen unterdrückt, naheliegende Schlussfolgerung raus ermittelt“, sagte Schorlau, der damit den Stoff für einen Krimi hatte.

Die existentiellen Fragen

Håkan Nesser plauderte zwei Abende lang sehr unterhaltsam übers Schreiben, erzählte Geschichten übers Geschichtenerzählen. Zum Kriminalroman sei er ja eher zufällig gekommen. Anfang der 1990er Jahre habe er, damals unterrichtete er noch an einem Gymnasium, an einem Roman gearbeitet und merkte beim Schreiben, dass sich diese Geschichte wohl nur als Krimi erzählen lasse. Es war „Das grobmaschige Netz“, der erste Teil seiner Van Veeteren-Reihe. „Jeder der schon mal am Morgen seine Frau tot in der Badewanne gefunden hat, weiß, dass er ein Problem hat“, fasste er die Ausgangsszene trocken zusammen.

So wenig, wie er damals einen Kriminalroman im Sinn hatte, so fern lag ihm, daraus eine zehnbändige Reihe zu machen. Das erklärt er sich im Nachhinein so: Im handlungsgetriebenen Genre bleibe wenig Platz, die Charaktere zu entwickeln, deshalb habe er wohl so viele Van-Veeteren-Romane geschrieben. Wobei sich die freilich auch ganz gut verkauften. Danach jedenfalls wollte er keine Reihe mehr schreiben – und tat es dann doch. Als er an einer Familiengeschichte saß, sei er auf Seite 175 stecken geblieben. Nach einer Weile sei in seinem Kopf die Ermittlerfigur Gunar Barbarotti aufgetaucht (dem er schließlich fünf Romane widmete). Erst mit dieser Figur habe er die Geschichte („Mensch ohne Hund“) zu Ende erzählen können.

Er arbeite grundsätzlich chronologisch, sagte Nesser. „Ich will der erste Leser meiner Bücher sein.“ Ein fertiges Konzept habe er dabei nicht. Das würde ihm den Spaß am Schreiben komplett verderben. Fertig hat der Autor übrigens einen Roman, in dem sich seine beiden Serienkommissare begegnen. „Der Linkshänder-Club“ wird er wohl heißen. Nächsten Sommer erscheint er in Schweden.  

Mit dem Krimi-Genre, sagte Nesser, sei im Grunde nichts verkehrt. Allerdings gebe es längst viel zu viele Kriminalromane. Allein in Schweden, wo er nach Stationen in New York und London seit einigen Jahren wieder lebt, würden jeden Monat mindestens 150 neue erscheinen – darunter eben auch viele schlechte. Ein Krimi-Tsunami sei es, der da seit Jahren den Markt flute. Dabei komme es am Ende in der Literatur doch immer nur darauf an, eine gute Geschichte gut zu erzählen. Der Krimi biete Gelegenheit, politische und gesellschaftliche Themen aufzugreifen, wobei er selbst eher an psychologischen Romanen interessiert sei. Aber ein wichtiger Punkt ist: Man könne im Kriminalroman sehr ernsthaft werden – weil der Tod präsent ist. Da, sagte der 67-jährige, „ist man als Leser dann gleich bei den existentiellen Fragen“.

Frank Rumpel

Eine Einschätzung des Projektes von Thomas Wörtche finden Sie hier.

 

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