Geschrieben am 31. März 2012 von für Crimemag, Porträts / Interviews

Bernard Minier: Schwarzer Schmetterling

Willkommen in der Hölle

– Im abgelegensten Teil der französischen Pyrenäen befindet sich eine geschlossene Hochsicherheits-Anstalt, in der psychopathische Schwer- und Triebverbrecher therapiert werden. Als in der benachbarten Kleinstadt mehrere extrem brutale Morde verübt werden, soll Kommissar Servaz die Fälle aufklären. Der ehemalige Zollbeamte Bernard Minier, der den ungewöhnlichen Psychothriller „Schwarzer Schmetterling“ verfasste, stammt aus den Pyrenäen. Dort erklärt er im frostigen Tiefschnee nahe der spanischen Grenze einige Romanschauplätze. Eine Reportage von Peter Münder.

Das Institut Wargnier ist eine mit neuester Überwachungs-Technologie abgesicherte geschlossene Anstalt in den Pyrenäen , in der achtundachtzig gefährliche Triebtäter und Mörder behandelt werden. Der gebildete, eloquente Julian Hirtmann, ein ehemaliger Schweizer Staatsanwalt, ist der prominenteste unter diesen Sicherheitsverwahrten: Er hat mehrere Frauen vergewaltigt und ermordet. Die junge Psychologin Diane Berg will in dieser Klapsmühlen-Festung neue Therapie-Methoden studieren , kann sich aber nur wundern über den merkwürdigen Mix von Elektroschocks und hammerharten Psycho-Pharmaka, den der exzentrische Anstaltsdirektor Xavier als besonders innovative und progressive Therapie verkauft. Als sie eruiert, dass Medikamente aus der Anstalt verschwinden und sich nachts merkwürdige Dinge abspielen, ist sie alarmiert: Spielt der Anstaltsleiter ein doppeltes Spiel? Kann der Triebtäter Hirtmann sich trotz der raffinierten Überwachungsmethoden aus der Anstalt entfernen und weitere Verbrechen begehen? Als man am Wasserkraftwerk in 2000 Meter Höhe ein getötetes Pferd findet und dazu noch die DNA von Hirtmann, eskaliert die allgemeine Verunsicherung: Welcher Psychopath tötet schon ein besonders edles Rassepferd und transportiert den Kadaver dann auf einen 2000 Meter hohen Berg? Und wie hängen die Morde an vier Männern mit dieser Tat zusammen?

Schloss-Feeling

Diese und viele andere Fragen beantwortete Bernard Minier, 52, auf einer Pressereise, die zu einigen Schauplätzen in die verschneiten Pyrenäen führte. Und um das im Roman vorherrschende eisige Sibirien-Feeling abseits des „All-inclusive“-Ski-Tourismus kennenzulernen, machten wir sogar eine Tiefschnee-Wanderung auf Schneeschuhen, wobei die einzigen Spuren, die dabei zu entdecken waren, von Füchsen stammten. Kafkas Landvermesser K. hätte das seltsam entrückte „Schloss“-Feeling, diese permanent suggerierte Ambivalenz des Eindeutigen, auch nicht eindringlicher vorführen können. In diesen eisigen Höhen fegen einem plötzlich wieder Szenen aus dem „Zauberberg“-Schnee-Kapitel in die kalten Knochen und man fragt sich zitternd, ob es vielleicht auch einen mentalen Perma-Frost gibt …

Prix Polar

Als ich Bernard Minier am Flughafen von Toulouse treffe, um mit ihm im Kleinbus bei deftigen Minusgraden den knapp dreistündigen Trip in das völlig verschneite Heilbad und Skisport-Zentrum Luchon zu unternehmen – im Roman heißt das Nest mit 2500 Einwohnern St. Martin – sind wir sofort mitten drin in spannenden Diskussionen über klassische Krimi-Autoren, Schuld-und Sühne-Themen  und natürlich auch über seinen eigenen literarischen Werdegang.

Der äußerst belesene Autor hat einen herrlichen Sinn für Humor, er gibt auch nicht den schöngeistigen elder statesman, der die Welt retten kann. Minier freut sich einfach über den Erfolg seines Psychothrillers, der im letzten Jahr in Paris unter dem schlichten Titel „Glace“ (Eis) erschien, sofort mit dem Prix Polar ausgezeichnet wurde und schon in mehrere Fremdsprachen übersetzt ist. Das war für ihn nämlich auch das Ende seiner 25jährigen Tätigkeit beim Pariser Zoll: „Ich hatte zwar auch mit spannenden Ermittlungen zu tun, wenn es etwa nach der US-Invasion im Irak um gravierende Verstöße gegen internationale Rüstungsexportbestimmungen ging, aber gleich nach dem Erscheinen von „Glace“ kündigte ich den Job. Geschrieben hatte ich ja immer schon, aber nun konnte ich es endlich ganz professionell machen“.

Während Minier aus dem Bus auf entfernt liegende kleine Kirchen zeigt, zum Stopp an einem alten Kloster anhalten lässt und bei einem Rundgang durch das idyllische Nest auf dessen totale Isolation hinweist („Hier geht es einfach nicht weiter“), erläutert er einige biografische Aspekte. Das große Faszinosum Weltliteratur verzauberte ihn schon als Kind und verleitete ihn früh zum Schreiben, sein Medizinstudium in Toulouse hatte er vorzeitig abgebrochen, dann zog er nach Paris, wo er eine ruhige Kugel beim Zoll schob, nebenher Kurzgeschichten schrieb und an seinem opus magnum „Glace“ herumlaborierte. Er konsultierte regelmäßig seinen Freund Jean-Pierre Schamber, einen versierten Literatur-Experten, der die Texte las und ihm eines Tages eröffnete „Du brauchst überhaupt keinen Ratgeber, schreib deine Texte alleine, das ist doch alles sehr gelungen!“

„Frost“ & Co.

Beim Rundgang durch ein kleines Bergdorf mit einer Kirche, einer Kneipe und einem Weltkrieg I.-Denkmal für die gefallenen Helden, kommen wir ins Grübeln über die mentalen Endlosschleifen, die sich hier bei der Darstellung des beliebten Themas „Innenwelt der Außenwelt“ ergeben. Minier charakterisiert die geografische und mentale Isolation dieser Berg-Enklaven an der spanischen Grenze so: „Diese Dörfer sind von der Welt abgeschirmte Sackgassen, daher sind hier auch die normalen Wertmaßstäbe der Außenwelt ziemlich irrelevant “. Und damit sind wir schon bei Thomas Bernhard, dessen erster Prosatext „Frost“ (von 1963) den „Glace´“-Autor stark beeindruckt hatte: „Bernhards Frost, in dem der Medizin-Student den verrückten Maler Strauch observieren soll, verweist ja nicht nur auf extreme Kälte, sondern auf einen permanenten Ausnahmezustand! Was ist hier noch normal, was ist irre? Es ist grandiose Literatur, die den Verlust ethischer Normen thematisiert, das Verrücktsein im Kontext gesellschaftlicher Abhängigkeiten kennzeichnet und die typisch Bernhardsche, negativistische Perspektive so überzieht, dass aus dem verschlafenen Salzburger Hochtal eine Art Vorhölle aus Dantes Inferno wird – einfach genial!“

Die Romane von Thomas Bernhard, Anthony Burgess („Clockwork Orange“) und William Golding („Herr der Fliegen“) haben Minier fasziniert, weil sie die Frage thematisieren, ob wir tatsächlich die Wahl haben, uns für das Gute oder Böse zu entscheiden oder ob unsere Handlungsweisen bzw. Charakteranlagen genetisch bedingt und vorgegeben sind – kurz und knapp gefragt: Gibt es den „freien Willen“ überhaupt? Und Goldings Insel, auf der die gestrandeten Schüler total ausrasten, scheint dumpfe Neandertaler-Instinkte ähnlich extrem zu verstärken wie die Isolation in den verschneiten Pyrenäen. „Man hat praktisch das Gefühl, allein zu sein auf der Welt. Es ist, als wäre man irgendwo im Nichts … auf einer verlassenen Insel … Eine Insel, die verloren in einem Meer aus Schnee und Eis liegt“, heißt es an einer Stelle im Roman.

Tiefenbohrung

Der Autor ermittelt wie sein vielschichtiger Kommissar Servaz in alle Richtungen, er bohrt immer weiter und tiefer, weil er sich mit den üblichen Standardantworten und den Mainstream-Verdummungsmechanismen einfach nicht begnügen will. Und weil er sich nicht mit den schlampigen Ermittlungen früherer Ermittler abfindet, entdeckt er auch ein Tagebuch, das ihn direkt zur Lösung der mysteriösen Selbstmordfälle mehrerer Teenager führt.

Minier lässt seinen TV-abstinenten („es liefen zu viele Sportsendungen und das auch noch zu jeder Tages- und Nachtzeit“) knurrigen, nach 15jähriger Ehe geschiedenen Kommissar Servaz zusammen mit der eigenwilligen, cleveren Kollegin Irene Ziegler einen Augiasstall aufräumen, in dem sich etliche ungelöste Problemfälle angesammelt hatten. Es sind mal wieder die langen Schatten einer düsteren Vergangenheit, die für große Irritationen sorgen. Denn ein brutales, perverses Männerquartett, das sich vor einigen Jahren an Jugendlichen vergriff, gerät nun in den Focus der Ermittlungen: Kann eine Selbstmordwelle unter Schülern damals durch die Übergriffe des völlig enthemmten Quartetts ausgelöst worden sein? Und welche Zusammenhänge gibt es zu den mysteriösen Morden, die Servaz aufklären soll? Sollen diese aufgehängten, mit Regencapes drapierten Leichen gruselige Ornamente von Ritualmorden sein?

Minier gelingt es, hier trotz eines enormen, mitreißenden Spannungsbogens nicht effekthascherisch an der Gewaltspirale zu drehen, um im Stil eines Stieg Larsson immer neue Gruseleffekte zu produzieren. Als Servaz in der geschlossenen Anstalt den unberechenbaren Serienmörder Hirtmann in dessen Zelle verhört, hat der Killer, der ca. 40 Frauen getötet haben soll, gerade eine CD mit Mahlers vierter Symphonie aufgelegt – und Servaz geht auf die Feinheiten des ersten Satzes sowie auf Adornos Zitat, dieser Satz sei „wie das es war einmal im Märchen“ ein, was zu einem intensiven Streitgespräch führt. „Es gibt keine undurchlässige Membran, die das Böse daran hindern würde, sich überall auszubreiten“, erklärt Hirtmann gegenüber Servaz, „im Grunde stehen Sie mir und den anderen Insassen viel näher, als Sie glauben. Es ist eine Frage der Abstufung, nicht des Seins“.

Seilbahn in Luchon

Philosophisches Recycling?

Das hört sich an wie ein Recyclingversuch der Diskussionen von Sartre und Camus – aber sei´s drum, wie Minier diese Themen so knallhart und gleichzeitig sehr subtil und elektrisierend in diesen Psychothriller packt, das ist schon genial. Merkwürdiger Nebeneffekt dieses speziellen Minier-Faszinosums war allerdings auch, dass ein in vielen Zeitungen veröffentlichtes Foto in Frankreich für Aufsehen sorgte, auf dem ein Serienmörder gezeigt wurde, der mit dem „Glace´“-Roman in der Hand von der Polizei festgenommen wurde. Ob der Killer vorhatte, als krypto-literarischer Trittbrettfahrer ähnliche Morde wie die von Minier beschriebenen auszuüben, blieb jedoch unklar.

Wir fahren vor unserer Schneeschuh-Wanderung erst mal mit einer zum Skigebiet führenden Bergbahn auf das knapp 2000 Meter hohe Superbagneres-Plateau, wo sich die Skifahrer in die Täler hinunter stürzen. Dies war Miniers Inspiration für die Anfangsszene mit den beiden Technikern, die in eisiger Höhe die Maschinen eines Wasserkraftwerks warten sollen und dort oben am Geländer das getötete, edle Rennpferd des milliardenschweren Tycoons Eric Lombard entdecken.

Luchon

Wir suchen aber im tobenden Schneesturm sofort das nächste Cafe´ auf und kippen uns einen heißen Cappucino hinter die ausgekühlten Kiemen. Das Wasserkraftwerk liegt weiter entfernt, das festungsmäßig abgesicherte Institut Wargnier gibt es hier in Luchon gar nicht. Das Vorbild für diese geschlossene Anstalt befindet sich im kanadischen Montreal, wo man neue Therapietechniken für Triebtäter und Serienmörder entwickelte. Und darüber hatte Minier in einem medizinischen Fachblatt einen Bericht gelesen. Man sieht also: Der Autor arbeitet mit diversen Versatzstücken, die er geschickt miteinander verbindet. Ihm geht es, wie man schon bei der Lektüre der ersten Seiten spürt, vor allem um das Evozieren einer Atmosphäre totaler Isolation, die das pervertierte Unterlaufen und Ignorieren herkömmlicher Moralvorstellungen ermöglicht.

Charismatisch

Dieser einerseits bodenständig-pragmatische, andererseits etwas elitär- abgehobene Latein-Liebhaber, Horaz-Kenner und Heliodor-Leser („Aithiopika“) Servaz ist eine großartige, charismatische Figur. Ähnlich knorrig und nachdenklich wie Maigret, aber auch zum knallharten Zuschlagen und Widerspruch gegenüber bornierten Vorgesetzten bereit, bedient er keins der gängigen Hypochonder-Klischees eines migränekranken, jammernden Nordlicht-Kommissars mit Sozialhelfer-Ambitionen. Und er passt perfekt in das Raster, das Minier von gelungenen, besonders eindrucksvollen Romanen entwirft: „Ich habe herausgefunden, dass von herausragenden Romanen meistens die starken Hauptfiguren in Erinnerung bleiben und nicht so sehr der Plot – Madame Bovary und ihre emotionalen Befindlichkeiten gehören ebenso dazu wie Don Quichote, Kommissar Maigret oder der kapriziöse katholische Priester Kenneth Toomey in Anthony Burgess´ Fürst der Phantome.“

Genauso verhält es sich auch mit „ Schwarzer Schmetterling“, der neben dem grandiosen Servaz auch mit sehr starken Frauenfiguren beeindruckt. Diesem großen Wurf kann man jetzt schon beste Plätze auf den Bestsellerlisten prognostizieren, auch wenn am Schluss der sonst so überzeugende Übersetzer (wohl unter Zeitdruck) viel zu oft an der Phrasendreschmühle gedreht hat und immer wieder das “ in den Adern gefrorene Blut “ bemüht.

Peter Münder

Bernard Minier: Schwarzer Schmetterling (Glace, 2011). Roman. Deutsch von Thorsten Schmidt. München: Droemer 2012. 684 Seiten. 14, 99 Euro.

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Fotos: Copyright Peter Münder.

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